Lizenz zum Angriff im eigenen Gehirn

Göttinger und Erlanger Forscher verfolgen T-Zell-Training in der Lunge

Bei Multipler Sklerose schlüpfen Immunzellen durch die Blut-Hirn-Schranke, eine ansonsten zuverlässige Barriere zwischen Blutkreislauf und Zentralnervensystem, und richten große Schäden im Nervengewebe an. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universitätsmedizin Göttingen und der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) haben nun gezeigt, dass die Zellen das Rüstzeug dazu in der Lunge bekommen. Das Forscherteam beobachtete dort einen Wandel, bei dem T-Zellen zu „Wanderern“ umprogrammiert werden. Langfristig könnten die Forschungsergebnisse, die in der internationalen Fachzeitschrift „Nature“ veröffentlicht wurden, zu einer wirksameren Behandlung beitragen.

Wie bei allen Autoimmunkrankheiten wenden sich Teile des Abwehrsystems bei Multipler Sklerose (MS) gegen den eigenen Organismus, in diesem Fall gegen das Hirngewebe. Dort setzen sogenannte T-Zellen Entzündungen in Gang. Zu den schwersten Folgen zählen Lähmungen und Gefühlsstörungen. T-Zellen gehören zum Immunsystem fast jedes gesunden Menschen, doch nur bei zirka 0,1 Prozent der Bevölkerung steuern sie solche krankhaften Prozesse im Gehirn. Im Normalfall schottet eine dichte Barriere von Blutgefäßen das Nervensystem vom übrigen Körper ab und sperrt praktisch alle im Blut kreisenden Immunzellen aus.

Dennoch können voraktivierte T-Zellen in das Gehirn vordringen, wie frühere Arbeiten bewiesen haben. Unklar blieb, wo die T-Zellen im Körper aktiviert werden und welche Eigenschaften sie brauchen, um die Blut-Hirn-Schranke scheinbar mühelos zu überwinden. Antworten hat ein Team unter der Leitung von Prof. Dr. Alexander Flügel, Direktor der Abteilung Neuroimmunologie und Leiter des Instituts für Multiple-Sklerose-Forschung in Göttingen, unter Beteiligung des Anatomischen Instituts in Erlangen (Lehrstuhl II, Prof. Dr. Friedrich Paulsen) gefunden.

Aktivierte T-Zellen wandern demnach nicht sofort in das Gehirn ein, sondern „erlernen“ diesen Schritt. Sie stellen die Zellteilung ein, drosseln die Eiweißproduktion und werden stattdessen beweglicher. Rezeptoren, die wie kleine Antennen auf ihrer Oberfläche ausgeprägt werden, erleichtern es ihnen, sich zu orientieren und an Zellstrukturen anzudocken. Zum Anheften an die Innenseite von Gehirngefäßen eignet sich vor allem Ninjurin1, ein bislang für T-Zellen unbekannter Rezeptor. Im Hirngewebe angelangt, verwandeln sich die Nomaden zurück in Angreifer.

Die Lunge: Umschaltstation und Depot
Für das Bewegungstraining ist die Lunge die erste Station. Sobald aktivierte T-Zellen aus dem Blutkreislauf in das Gewebe einwandern, wird ihr Programm nach und nach umschaltet. Sie hangeln sich mit zunehmender Geschwindigkeit an den Gefäßen und Luftwegen entlang, passieren die anliegenden Lymphknoten und die Milz, treten erneut in die Blutzirkulation ein und gelangen schließlich in das zentrale Nervensys­tem. Kurioserweise kriechen die Zellen in der Lunge nicht nur an der Außenseite der Bronchien, sondern sie krabbeln auch innerhalb der Luftleiter, wo die Atemluft zirkuliert. Die Forscher beobachteten im lebenden Lungengewebe, dass die T-Zellen die Bronchien offenbar als eine Art Schnellstraße nutzen.

Die Lunge als Nische für T-Zellen (Quelle: umg/imsf göttingen)
Die Lunge als Nische für T-Zellen. Links: Aufnahme eines Lungenexplantats mittels Zweiphotonenmikroskopie. Autoaggressive T-Zellen (weiße Pfeile) sammeln sich in lymphatischen Strukturen (gelber Pfeil) und bewegen sich an der Außenseite und im Inneren der Luftleiter (Bronchien, Br). Einige durchwandern die Luftsäckchen (Alveolen, Al). Mitte: Zeitprojektion über 10 Minuten. Rote Punkte: stoppende T-Zellen, gelbe Linien: Wege von T-Zellen. Rechts: 3D-Rekonstruktion. (Quelle: umg/imsf göttingen)

Darüber hinaus entdeckten die Wissenschaftler T-Gedächtniszellen, die in der Lunge langfristig ruhen wie in einem Depot. Lokale Reize können ihre autoagressiven Eigenschaften wecken und sie auf den Weg zum Gehirn schicken, wo sie eine MS-artige Erkrankung auslösen. Möglicherweise kommt es also zu MS-Krankheitsschüben, wenn die Atemwege infiziert oder anderweitig irritiert sind, z.B. durch Rauchen. Eine ähnliche, obwohl weniger dramatische Rolle könnte der Lunge zukommen, wenn aktivierte, umprogrammierte T-Zellen in anderen Organsystemen zu Krankheiten führen, wie dem Darm oder dem Urogenitaltrakt.

Eine beträchtliche Zahl von Genen, die MS-Patienten erwiesenermaßen anfällig machen, veranlasst der Studie zufolge auch die T-Zellen zum Wandern. Künftige Forschungen könnten hier Angriffspunkte für neue Therapien finden.

Originalveröffentlichung: T cells become licensed in the lung to enter the central nervous system, Nature (2012) 488: 675679, doi: 10.1038.nm.2629.

Weitere Informationen:
Prof. Dr. Cassandra Flügel-Koch
Cassandra.Fluegel-Koch@anatomie2.med.uni-erlangen.de