Der Fluch der vielen Nobelpreisträger – ein Blick auf das Bildungssystem in Deutschland

Prof Ziegler
Prof. Dr. Albert Ziegler

Wenn die bayerischen Schüler am 22. Februar die Halbjahreszeugnisse erhalten, werden an der einen oder anderen Stelle wieder Klagen laut werden gegen das Bildungssystem in Deutschland. Warum weder die Abschaffung des Sitzenbleibens noch der Fokus auf die Ausbildung von Lehrern als alleinige Heilsbringer gelten können und was nötig ist, um das Bildungssystem tatsächlich zu reformieren, kommentiert Prof. Dr. Albert Ziegler, Inhaber des Lehrstuhls für Pädagogische Psychologie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU).

Den Begriff des Kindergartens prägte Gustav Fröbel. Die Universität wurde nach den Vorschlägen Wilhelm von Humboldts revolutioniert. Noch vor 100 Jahren war das deutsche Bildungssystem unbestritten ein weltweites Vorbild. Mehr Nobelpreisträger als sonstwo auf der Welt durchliefen Deutschlands Bildungsinstitutionen, die sich damals vor keinem PISA-Vergleich hätten scheuen müssen.

Systemtheoretiker wissen jedoch um das Janusgesicht des Erfolges. So süß er schmeckt, er macht auch satt und erhöht die Innovationsscheu. Dies führt zwangsläufig irgendwann zu Misserfolgen. Tatsächlich reisen heute Bildungsdelegationen in andere Länder, wenn sie Anschauungsunterricht nehmen möchten. Zu Recht: Die Unternehmensberatung McKinsey hat kürzlich die jährlichen Einbußen der Vereinigten Staaten aufgrund ihres unzureichenden Bildungssystems auf ca. 1,2 Billionen US-Dollar geschätzt. Entsprechende Berechnungen für Deutschland veranschlagen den Verlust auf bis zu 500 Milliarden US-Dollar. Wohlgemerkt jährlich!

Ein berüchtigtes Beispiel für die Innovationsscheu lässt sich in diesen Tagen beobachten. Zwischenzeugnisse sind für viele Schüler der erste Angsthöhepunkt des neuen Kalenderjahres. Das gilt beileibe nicht nur für die Leistungsschwachen. Selbst die Leistungsstärksten können hinter selbst gesteckten Erwartungen oder Elternansprüchen zurückbleiben. Ängste entstehen aber vor allem dann, wenn wir Bedrohungen wahrnehmen, für die wir keine Lösung parat haben. Unsere Zeugnisse bieten jedoch keine Lösungshilfe, sondern nur ein grobgerastertes Leistungsprofil. Wünschenswert wäre aber ein differenziertes Lernfeedback, das mit individualisierten Lernplänen gekoppelt werden sollte. Diesen Wunschtraum träumten übrigens schon vor 100 Jahren deutsche Bildungsforscher.

Eine typische erste Reaktion erfolgreicher Systeme auf unerwarteten Misserfolg ist hektische Betriebsamkeit, die zu Überreaktionen verführt. Ein Beispiel sind die Antworten auf die zahlreichen Forschungsstudien, die zeigen, dass Sitzenbleiben die Lernprobleme der Leistungsschwächeren nicht löst. Es nutzt selten, schadet oft und verschlingt dazu extrem viele Bildungsressourcen. Was tun? Erfreulicherweise ist die Palette sinnvoller Alternativen reichhaltig und erstreckt sich von remedialen Lernschleifen im differenzierten Unterricht bis zur präventiven Förderung von Risikokindern, deren Bildungsaufstieg besonders gefährdet erscheint. Was jedoch nicht getan werden sollte, ist in einer ersten Überreaktion das Sitzenbleiben gänzlich abzuschaffen. Denn die Forschungen zeigen doch auch, dass es in Einzelfällen durchaus erfolgreich sein kann. Warum sollte man sich also dieser Möglichkeit berauben?

Eine typische zweite Reaktion erfolgsverwöhnter Systeme auf Misserfolge ist die Suche nach einfachen Rezepturen. Neben den überzogenen Hoffnungen die mit kleineren Klassen oder Abschaffung des mehrgliedrigen Schulsystems verbunden sind, ist aktuell die Rezeption der berühmten Studie von John Hattie ein gutes Beispiel. Er inspizierte in einer gewaltigen Fleißarbeit mehr als 50 000 Einzelstudien nach den Erfolgsfaktoren erfolgreichen Schulunterrichts. Doch nicht die Dauerbrenner moderner Bildungsdebatten wie autonomes Lernen, offener Unterricht oder wenigstens kleinere Klassen machten das Rennen. Entscheidend war die Lehrkraft. Jedenfalls liest man die Ergebnisse in dieser verkürzten Form in den Medien.

Allerdings ist das eine äußerst verzerrte Interpretation. Sie erinnert an die Art und Weise, wie der Reifenkrieg in der Formel 1 wahrgenommen wurde. Als in einem Jahr die Teams mit Goodyear-Reifen und im nächsten die Teams mit Bridgestone-Reifen gewannen, hatten die Motorsport-Chefs selbstverständlich nicht die Gelder auf die Entwicklung von Reifen konzentriert. Ihnen war klar, dass das Gesamtpaket aus Motor, Getriebe, Aerodynamik, Reifen usw. stimmen muss. Auch der Studie von Hattie können wir nur entnehmen, dass derzeit die Lehrkraft einen entscheidenden Unterschied ausmacht. Wie groß ihr absoluter Einfluss aber ist, lässt sich der Studie nicht entnehmen.

Die Leitidee für Bildungsreformen können wir daher der altehrwürdigen Fabel des Aesop entnehmen, in der die Körperorgane gegen den Magen revoltierten. Ihre doppelte Moral war, dass wir erstens kein Organ als das wichtigste auszeichnen können. Wir werden nicht den einen archimedischen Punkt für unsere Bildungsreformen ausmachen können. Bildungssysteme sind hoch komplexe Gebilde, die sich nicht von Bildungsstammtischen aus steuern lassen. Zweitens lernen wir aus Aesops Fabel, dass Systeme rasch aus dem Gleichgewicht geraten können, wenn sie auf der Basis falscher Annahmen gesteuert werden. Der berühmte nordamerikanische Bildungsforscher Benjamin Bloom meinte einmal resigniert, dass zwischen verfügbarem bildungswissenschaftlichen Know-how und dessen praktischer Umsetzung eine zeitliche Lücke von 50 Jahren klafft.

Das war keineswegs eine wirklichkeitsfremde Einschätzung. Wir dürfen nicht stillstehen. Wir müssen unser Bildungssystem evidenzbasiert weiterentwickeln, damit es endlich in der Moderne ankommt. Ein nationaler Bildungsrat, in dem die Zahl der Interessenvertreter auf ein notwendiges Minimum beschränkt und die Zahl der Bildungswissenschaftler auf ein funktionales Maximum erhöht werden, wäre ein sehr guter erster Schritt. Doch der zweite muss folgen, will man den Fluch der vielen Nobelpreisträger überwinden: Bildungspolitische Entscheidungsträger müssen mutig die Umsetzung der Empfehlungen wagen. Mut bedeutet dabei die konsequente Orientierung an wissenschaftlicher Evidenz, auch wenn sich diese einmal nicht mit Parteiprogrammen decken sollte.

Weitere Informationen:

Prof. Dr. Albert Ziegler
Tel.: 0911/5302-596
albert.ziegler@ewf.uni-erlangen.de