Einen Oscar für ein „Alterswerk“

Prof. Dr. Kay Kirchmann
Prof. Dr. Kay Kirchmann (Bild: FAU)

„Liebe“, der Film des österreichischen Regisseurs Michael Haneke, ist bei der Oscar-Verleihung als bester fremdsprachiger Film ausgezeichnet worden. Das Drama erzählt von den letzten gemeinsamen Wochen eines älteren Ehepaares. Prof. Dr. Kay Kirchmann, Lehrstuhl für Theater- und Medienwissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU), kommentiert die Entscheidung der Academy of Motion Picture Arts and Sciences.

Am Ende wurde es dann doch „nur“ ein Oscar, obwohl „Liebe“ gleich in fünf Kategorien nominiert worden war (u.a. Bester Film, Beste Regie, Bestes Originaldrehbuch). Doch ist und bleibt die Oscar-Verleihung durch die Academy of Motion Picture Arts and Sciences nun einmal in erster Linie eine Leistungsschau der US-amerikanischen Filmindustrie und in zweiter Linie ein Seismograph der dortigen gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Befindlichkeiten im jeweiligen Jahrgang. Insofern stand nicht zu erwarten, dass ausgerechnet ein sperriges Kammerspiel über Liebe, Siechtum und Sterben eines hochbetagten Ehepaares diese Regel durchbrechen würde. Hanekes bereits mit Golden Globes, dem (französischen) César, dem (britischen) BAFTA-Award und der Goldenen Palme von Cannes dekorierter Film wurde also gleichsam auf den angestammten Platz verwiesen, der nicht-amerikanischen Produktionen zukommt.

Interessanter als dieser vergleichsweise banale Befund ist jedoch, inwieweit sich hieran noch einmal das gegenläufige Filmverständnis des europäischen Autorenkinos und Hollywoods nachzeichnen lässt. Mit Ben Afflecks „Argo“, einem Politthriller über die Befreiung US-amerikanischer Geiseln aus dem revolutionären Iran durch die CIA im Jahre 1980, wurde exakt jenes reduzierte Ausmaß an politischem Statement als Bester Film goutiert, das Hollywoods Selbstverständnis entspricht – und einer Anmoderation durch die First Lady für würdig erachtet wurde – während der genreverwandte „Zero Dark Thirty“ von Kathryn Bigelow über die Ermordung Osama Bin Ladens durch die Navy Seals doch zu sehr an aktuelle außenpolitische Debatten rührte und entsprechend auf den Nebenschauplatz Bester Tonschnitt durchgereicht wurde.

Auch die in Europa hochverehrten Autorenfilmer Quentin Tarantino (Django Unchained) und Steven Spielberg (Lincoln) wurden letztlich (wieder einmal) mit Trostpreisen abgespeist – ihr jeweiliger Blick auf die amerikanische Geschichte des Sklavenzeitalters war dann doch zu ambivalent ausgefallen. Und dennoch: Es ist eben sehr viel stärker ein (exakt vermessener und limitierter) Raum des Politischen und Historischen, der in Hollywood als Qualitätsmerkmal gilt, als dies dem europäischen Filmverständnis entsprechen würde. Die radikale Reduktion auf den verstörenden Intimraum des körperlichen Verfalls, der Hanekes Film auszeichnet, mutet dagegen fast schon provokant privatistisch an. Und einer Kultur, die noch jedem angry old man das Potential zuspricht, Weltgeschichte zu schreiben, müssen die Strukturprobleme des demographischen Wandels, die in den letzten Jahren verstärkt Einzug in die europäischen Produktionen gehalten haben, ohnehin hochgradig inkompatibel, ja suspekt erscheinen.

Vielleicht wird umgekehrt eher ein Schuh daraus: Statt der Frage, warum „Liebe“ nicht mehr Oscars eingeheimst hat, sollte man eher spekulieren, warum denn gerade dieser Film des inzwischen 70-jährigen österreichischen Regisseurs überhaupt so weit gekommen ist. „Liebe“ fehlt bei allem Beklemmenden, was diesem Film aneignet, eben jene anatomische Kühle, mit der Haneke in Filmen wie „Caché“, „Funny Games“ oder „Benny’s Video“ die psychischen und sozialen Deformationen seiner Figuren mitleidlos sezierte und zugleich zum Soziogramm ihrer Gesellschaft überhöhte. Dieses Verständnis eines politischen Films – das individuell Abnorme als Gradmesser des soziokulturellen Status quo – wurde noch keines Academy Award für würdig befunden. „Liebe“ macht es einem stimmberechtigten Mitglied der Academy da schon um einiges leichter, scheint der Film doch in seinem Rückzug auf das Menschlich-Allzumenschliche keinerlei gesellschaftsdiagnostische Dimension mehr für sich zu reklamieren.

Nicht zuletzt ist die Preisverleihung auch eine (wiederum wohldosierte) Verneigung vor zwei Ikonen des europäischen Filmschauspiels in ihrem neunten Lebensjahrzehnt – Emmanuelle Riva und Jean-Louis Trintignant – und ihrer psychischen wie physischen Bravourleistung als Protagonisten dieses Films. (Riva desungeachtet eben nicht als beste Darstellerin auszuzeichnen, darf durchaus als Hinweis verstanden werden, dass eine amerikanische Schauspielerin diese Rolle wohl ganz anders interpretiert hätte). Nicht ganz frei von Zynismus ehrt die Academy also mit „Liebe“ in vielerlei Hinsicht ein ihr unbedenklich erscheinendes Alterswerk: inhaltlich, in Gestalt des Regisseurs und seiner Schauspieler und im Hinblick auf diesen merkwürdig fremden anderen Kontinent des Films namens Europa. All das ist alt genug und weit genug weg, um als begrenzt preiswürdig anerkannt zu werden. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

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