„Wir müssen die Patienten aktivieren!“

Dr. Reinhard Sittl
Dr. Reinhard Sittl (Bild: Uniklinikum Erlangen)

Erlanger Anästhesist Dr. Reinhard Sittl wird mit Deutschem Schmerzpreis ausgezeichnet

Seit über zehn Jahren arbeitet Dr. Reinhard Sittl als leitender Oberarzt am interdisziplinären Schmerzzentrum des Universitätsklinikums Erlangen. Dank des großen Engagements des Anästhesisten und Soziologen hat sich die Einrichtung zu einem führenden interdisziplinären Zentrum für die Diagnose und Therapie chronischer Schmerzen in Deutschland entwickelt. Dafür hat Sittl Anfang März den mit 10.000 Euro dotierten Deutschen Schmerzpreis erhalten, der gemeinsam von der Deutschen Gesellschaft für Schmerztherapie und der Deutschen Schmerzliga verliehen wird. Wir haben mit Reinhard Sittl über seine Arbeit am Erlanger Schmerzzentrum gesprochen.

Herr Dr. Sittl, wir alle haben manchmal Schmerzen. Wann sind Schmerzen chronisch?
Von chronischen Schmerzen sprechen wir, wenn sie länger als drei Monate bis sechs Monate andauern. Am häufigsten sind davon Patienten mit Kopf- und Rückenschmerzen betroffen, doch auch nach Operationen – vor allem am Brustkorb, aber auch bei kleineren Eingriffen wie z.B. an der Leiste – können sich chronische Schmerzen entwickeln. Charakteristisch dabei ist, dass diese Schmerzen ihre Warnfunktion verloren haben und biopsychosozial geprägt sind, also sowohl körperliche als auch psychische und soziale Auswirkungen haben.

Wie äußert sich das bei den Patienten?
Körperliche Schmerzen kann sicher jeder nachvollziehen, aber chronische Schmerzen – wir sprechen heute von einer Schmerzkrankheit – können zum Beispiel zu psychischen Reaktionen führen. Die Betroffenen ziehen sich zunehmend aus dem Alltagsleben zurück und vernachlässigen dabei auch ihre sozialen Kontakte. Das wiederum kann zu einer Verstärkung des Schmerzempfindens führen – ein Kreis, aus dem die Patienten meist nur mit professioneller Hilfe herausfinden.

Wie viele Menschen in Deutschland sind denn von chronischen Schmerzen betroffen?
Wir gehen von rund fünf Millionen Menschen in Deutschland aus, die therapiebedürftige chronische Schmerzen haben. Das ist eine gewaltige Zahl von immenser sozioökonomischer Tragweite, denn häufig durchlaufen diese Patienten einen langen Zeitraum für ihre Diagnose – einschließlich erfolgloser Mehrfachbehandlungen. Das ist einerseits frustrierend für die Betroffenen, zum anderen kostet es unser Gesundheitssystem eine Menge Geld.

Und hier können Einrichtungen wie das Erlanger Schmerzzentrum helfen?
Auf jeden Fall, weil wir interdisziplinär aufgestellt sind. Es gibt so viele verschiedene Ursachen, Auslöser und Ausprägungen von Schmerzen, da reicht ein Spezialist nicht aus – weder für die Diagnose, noch für die Festlegung des Therapieplans. Deshalb arbeiten im Erlanger Schmerzzentrum Anästhesiologen, Neurologen, Orthopäden, Psychologen, Sporttherapeuten und Krankengymnasten zusammen. Ein weiterer wichtiger Aspekt unserer Arbeit ist, dass wir dem Patienten zu Beginn sehr viel Zeit widmen und großen Wert darauf legen, dass er Vertrauen zu uns aufbaut.

Wie muss man sich die Therapie im Schmerzzentrum konkret vorstellen?
Wichtigstes Ziel unserer Arbeit ist es, die Patienten zu aktivieren. Selbstverständlich behandeln wir auch medikamentös, wenn es erforderlich ist, aber Bewegung und Entspannung sind zentrale Elemente unserer Schmerztherapie. Und: Wir klären unsere Patienten so umfassend wie möglich über ihre Krankheit auf. Denn je kompetenter ein Schmerzpatient ist, umso eher ist er in der Lage, Eigenverantwortung für den Umgang mit der Krankheit zu übernehmen. Im Übrigen halten wir auch nach der Behandlung zu allen Patienten Kontakt und evaluieren jährlich mittels Fragebögen den dauerhaften Erfolg der Therapie.

Sie sind Anästhesiologe und Diplomsoziologe. Spielt Ihre eigene Interdisziplinarität eine Rolle bei Ihrer Arbeit?
Natürlich. Schließlich ist es wichtig, chronische Schmerzen nicht nur von der medizinischen Seite aus zu betrachten, sondern auch die sozialen Komponenten zu berücksichtigen. Hinzu kommt, dass ich auch ausgebildeter Fußballtrainer bin und so auch aktiv in der Bewegungstherapie arbeiten kann. Ich würde sagen, dass ich in der Leitung des Schmerzzentrums das ideale Aufgabenfeld für mich gefunden habe.

Wie kam es eigentlich zur Gründung des Erlanger Schmerzzentrums?
Ich selbst leite ja schon seit 1988 die Schmerzambulanz der anästhesiologischen Klinik und hatte das große Glück, gemeinsam mit Eberhard Lang und großer Unterstützung der Professoren Bernhard Neundörfer und Jürgen Schüttler das Schmerzzentrum aufbauen zu können. Ausgangspunkt war eine Studie, in der wir gezeigt haben, dass Patienten mit chronischen Kopf- und Rückenschmerzen in einer interdisziplinär aufgestellten Einrichtung besser, schneller und letztlich kostengünstiger therapiert werden können.

Wo steht das Schmerzzentrum heute im Vergleich zu anderen Einrichtungen?
Ich denke, man kann zu Recht behaupten, dass wir zu den führenden Schmerzzentren Deutschlands zählen. Vergleichbare Einrichtungen gibt es nur in Mainz und in München – keine davon an einer Universität. In Bayern gibt es darüber hinaus viele interdisziplinäre Tageskliniken zur Behandlung chronischer Schmerzen – der Freistaat nimmt im deutschen Vergleich eine Vorreiterrolle ein.

Für Ihre erfolgreiche Arbeit im Schmerzzentrum ist Ihnen jetzt der Deutsche Schmerzpreis verliehen worden. Was bedeutet Ihnen diese Auszeichnung?
Ich bin natürlich stolz auf die nationale und internationale Anerkennung, die mit der Verleihung des Preises verbunden ist. Wichtig ist mir allerdings auch, dass die Auszeichnung nicht mir allein, sondern dem gesamten Team des Zentrums gilt.

Abschließende Frage: Wie wird sich Ihrer Meinung nach die Diagnostik und Therapie chronischer Schmerzen in Deutschland entwickeln?
Man muss feststellen, dass die übergreifende Betrachtung chronischer Schmerzen häufig fehlt. Für die Zukunft gilt es, die Ärzte für die Krankheit zu sensibilisieren und dafür zu sorgen, dass Kollegen möglichst vieler Disziplinen frühzeitig einbezogen werden. Ich bin überzeugt davon, dass spätestens der ökonomische Druck im Gesundheitswesen zu einer interdisziplinären Zusammenarbeit bei Diagnose, Therapie, Betreuung und Evaluation chronischer Schmerzen führen wird.

Herr Dr. Sittl, wir bedanken uns herzlich für das Gespräch.