„,Selbstverständliches Dabeisein‘ ist ein Menschenrecht“

Imke Leicht vom Lehrstuhl für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik an der FAU (Bild: privat)
Imke Leicht vom Lehrstuhl für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik an der FAU (Bild: privat)

FAU-Expertenkommentar: Imke Leicht zur Inklusion und ihrer Bedeutung für die Gesellschaft

Menschen mit Behinderungen sollen in der Gesellschaft ganz selbstverständlich überall dabei sein – so sieht es das Konzept der Inklusion vor, das 2006 in der UN-Behindertenrechtskonvention formuliert wurde. Ihre Umsetzung im Alltag gestaltet sich nicht selten schwierig. Wie wichtig das Konzept der Inklusion jedoch für die Gesellschaft ist, erläutert Imke Leicht vom Lehrstuhl für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU).

Behinderte Menschen wurden in der Vergangenheit eher als Objekte der Wohlfahrt, der medizinischen Behandlung und der sozialen Fürsorge gesehen – nicht als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft. Im Dezember 2006 nun verabschiedete die UN das „Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ (UN-Behindertenrechtskonvention, im Folgenden: Konvention oder BRK) unter dem Motto „Nichts über uns ohne uns!“, an dem auch viele zivilgesellschaftliche Organisationen von Menschen mit Behinderungen mitwirkten. Deutschland als Vertragspartner ist zur rechtlichen und politischen Umsetzung verpflichtet.

Die BRK hat in vielerlei Hinsicht sowohl neue Perspektiven auf Behinderung eröffnet als auch das Verständnis der Menschenrechte erheblich weiterentwickelt. Die darin enthaltenen Rechte entsprechen, wie auch in der UN-Frauenrechtskonvention oder der UN-Antirassismus-Konvention, den allgemeinen universellen, unveräußerlichen und unteilbaren Menschenrechten. Sie sind keine „Sonderrechte“, sondern auf die Erfahrungen, Lebenswirklichkeiten und Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen zugeschnitten und daraufhin konkretisiert. Ausgangspunkt der BRK ist, wie auch in allen weiteren UN-Menschenrechtskonventionen, die Anerkennung der unveräußerlichen Würde, die jedem Menschen aufgrund seines Menschseins zusteht.

In der BRK kommt der Menschenwürde als Bestandteil von Bewusstseinsbildung noch ein besonderer Stellenwert zu. Die BRK ist das erste Dokument, in dem Behindertenpolitik aus einer menschenrechtlichen Perspektive betrachtet wird, was zu einem grundlegenden Paradigmenwechsel geführt hat. Während behinderte Menschen eben bislang als Objekte der Wohlfahrt, der medizinischen Behandlung und der sozialen Fürsorge gesehen wurden, gelten sie nun als Subjekte, die das gleiche Recht auf ein freies und selbstbestimmtes Leben in sozialen Bezügen sowie das Recht auf die aktive Teilhabe als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft haben. Der menschenrechtsbasierte Ansatz geht einher mit einem Perspektivwechsel auf Behinderung, weg von der medizinischen Perspektive, hin zu einer menschenrechtlichen Perspektive auf Behinderung. In dem „traditionellen“ medizinischen Modell wurde Behinderung als individuelles Defizit, als körperliche, psychische oder kognitive Schädigung betrachtet, abweichend von einer vermeintlichen „Norm“.

Das menschenrechtliche Modell von Behinderung hingegen richtet den Blick – begleitet von dem Leitgedanken „behindert ist man nicht, behindert wird man“ – auf die gesellschaftlichen Bedingungen, die bestimmte Menschen ausgrenzen und sie an der Ausübung ihrer Rechte hindern. Behinderung entsteht durch die unterschiedlichen und vielschichtigen gesellschaftlichen Barrieren, die in öffentlichen Verkehrsmitteln und Gebäuden, in den Bereichen der Politik, Medien und Kommunikation, in sozialen Diensten und nicht zuletzt in den Köpfen der Menschen bestehen. Behinderung wird von daher von individuellen Beeinträchtigungen unterschieden, die im Wechselverhältnis zu den gesellschaftlichen und umweltbedingten Barrieren stehen.

Zugleich geht es aber auch um die Anerkennung von behinderten Menschen als selbstverständlicher und bereichernder Bestandteil der Gesellschaft, sprich um die Anerkennung menschlicher Vielfalt unter Berücksichtigung unterschiedlicher individueller Voraussetzungen, Befähigungen und Bedürfnisse. Diese menschenrechtlichen Perspektivwechsel sind Ergebnis von gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen und wurden von Behindertenrechtsbewegungen weltweit erkämpft.

Ein wesentlicher Grundsatz in der BRK ist das Konzept der Inklusion. Inklusion meint das Menschenrecht eines jeden Individuums auf gleichberechtigte Teilhabe in allen gesellschaftlichen Bereichen. Unabdingbare Voraussetzungen für eine wirkungsvolle Umsetzung von Inklusion sind Barrierefreiheit, Chancengleichheit und der Schutz vor jeglicher Form von Diskriminierung. Mit der Forderung nach einem „selbstverständlichen Dabeisein“ meint Inklusion nicht nur behinderte Menschen, sondern bezieht alle Mitglieder der Gesellschaft ein. Aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive richtet sie den Blick auf die ausgrenzenden gesellschaftlichen Strukturen, was ein grundlegender Unterschied zur Idee der Integration ist.

Diese geht von bestehenden Strukturen einer gesellschaftlichen „Normalität“ aus, an die jeder Einzelne sich anpassen muss. Der tatsächlichen Verwirklichung des Konzepts der Inklusion stehen jedoch noch viele rechtliche, politische und gesellschaftliche Barrieren im Weg. Etliche Fragen sind noch nicht beantwortet und sämtliche Aufgaben noch nicht annähernd erfüllt. Diesen Weg weiter zu beschreiten bedeutet zunächst, Diskriminierung und Ausgrenzung in allen Lebensbereichen sichtbar zu machen – im politischen, öffentlichen und kulturellen Leben, im Bildungsbereich, im Gesundheitswesen, auf dem Arbeitsmarkt oder auch beim Zugang zum Recht. Darüber hinaus geht es auch darum, sich auf Lernprozesse einzulassen und tatsächlich die Perspektive einer inklusiven Gesellschaft einzunehmen.

Das Online-Handbuch „Inklusion als Menschenrecht“ ist ein praktisches Werkzeug, das uns auf dem Weg zu einer inklusiven Gesellschaft begleiten will. Es wurde vom Deutschen Institut für Menschenrechte erstellt und von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ im Programm „Menschen Rechte Bilden“ gefördert. Es ist eine Sammlung an Informationen, Methoden, Plan- und Rollenspielen zu den Themen Inklusion, Behinderung und Menschenrechte. Besonders hervorstechend ist eine Zeitachse, mit der eine historische Perspektive auf Behinderung eingenommen werden kann. Sie zeigt in unterschiedlichen Epochen – in der Antike, im Mittelalter oder während des Nationalsozialismus – die Lebenssituationen von behinderten Menschen, welche Rolle sie spielten, welche Rechte sie hatten und wie sich diese im Laufe der Zeit veränderten. Das Online-Handbuch findet Anwendung in den vielfältigen schulischen und außerschulischen Bildungsbereichen und ermöglicht eine erste Auseinandersetzung  mit Inklusion sowie eine praktische Umsetzung: http://www.inklusion-als-menschenrecht.de/

Ansprechpartnerin für die Medien:

Imke Leicht
Telefon: 09131-85-23272
E-Mail: imke.leicht@fau.de