Erwachsenes Gehirn kann neue Nervenzellen bilden

Forscher revolutionieren bisherige Thesen der Hirnforschung

Das menschliche Gehirn kann auch im Erwachsenalter neue Gehirnzellen produzieren – und zwar im so genannten Hippocampus, einem kleinen Areal im Hirn. Mit dem Nachweis für diese These haben Forscher eine der wichtigsten Fragestellungen der Neurowissenschaften beantwortet. Dr. Hagen Huttner, Hirnforscher in der Neurologischen Klinik am Universitätsklinikum an der FAU war Teil des – überwiegend schwedischen – Forscherteams, das sich für seine Beweisführung eines Nebeneffektes der mehr als 500 oberirdischen Atombombentests zu Zeiten des Kalten Krieges bediente: Bei diesen war in großen Mengen ein radioaktives Kohlenstoff-Isotop in die Atmosphäre freigesetzt worden. Die Erkenntnisse wurden jüngst in der Fachzeitschrift „Cell“ veröffentlicht.*

„Über Jahrzehnte hinweg dominierte das wissenschaftliche Dogma, dass unser menschliches Gehirn im Erwachsenenalter keine neuen Nervenzellen mehr bildet“, erklärt Hagen Huttner. Der bislang einzige Hinweis, dass eventuell doch in einem kleinen Hirnareal – dem so genannten Hippocampus, der in Gedächtnis- und Lernprozesse involviert ist – eine lebenslange Nervenzellneubildung (Neurogenese) stattfinden könnte, erbrachten im Jahre 1998 schwedische Forscher an den Gehirnen von fünf verstorbenen Patienten mit Zungenkrebs. Da sich jedoch die Substanz, die zum Nachweis von Nervenzellteilung verwendet wurde, als toxisch herausstellte, konnte am Menschen der Befund der Nervenzellneubildung nie reproduziert und bestätigt werden. Seither sind hochkarätige Forschungsarbeiten veröffentlicht worden, die diese ‚hippocampale Neurogenese‘ nur an Nagetieren untermauern konnten.

Das Forscherteam, das am Stockholmer Karolinska Institutet koordiniert wurde, untersuchte nun die zelluläre Regeneration im menschlichen Hippocampus und bediente sich dafür einer einzigartigen Methode, nämlich der Altersdatierung von Zellen, die auf der radioaktiven Kohlenstoff-Freisetzung im Rahmen der Atombombentests basiert. „Diese sogenannte Radiocarbonmethode ist prinzipiell nicht unbekannt. Sie wird beispielsweise in der Archäologie zur Altersdatierung von Fundstücken regelmäßig eingesetzt“, erläutert Hagen Huttner. „Allerdings war Jahrtausende lang das Verhältnis von normalem und radioaktivem Kohlenstoff relativ konstant, so dass die Genauigkeit der Altersdatierung zu wünschen übrig ließ. Durch die Atombombentests ist dieses Kohlenstoffverhältnis drastisch verändert worden und gleicht sich – nach den Atomwaffensperrverträgen – über Jahrzehnte hinweg nun langsam wieder dem alten Niveau an. Dadurch ist die zeitliche Auflösung der Radiocarbonmethode phantastisch genau geworden und wir konnten sie für wissenschaftlichen Versuche zur hippocampalen Neurogenese einsetzen.“

Die radiocarbonbasierte Altersdatierung von Nervenzellen bedient sich der Tatsache, dass der radioaktive Kohlenstoff über Pflanzen und Tiere in die Nahrungskette und den Menschen gelangte und bei jeder Neubildung von Zellen in deren Erbgut, die DNA, „eingebaut“ wurde, und zwar in genau jenem Verhältnis zu dem regulären Kohlenstoff, wie es dem atmosphärischen Werten im Jahr der „Geburt“ der Zelle entsprach. Isoliert man die DNA aus Nervenzellen, die sich nach ihrer Geburt nicht weiter teilen, und untersucht das Verhältnis von normalem und radioaktivem Kohlenstoff, so kann man sehr genau das Geburtsjahr dieser Nervenzellen ermitteln.

Die Forscher konnten in ihren Untersuchungen nachweisen, dass eine große Subpopulation hippocampaler Nervenzellen, etwa ein Drittel, lebenslang neugebildet wird. Huttner: „Dies entspricht im erwachsenen Menschen rund 1.400 Nervenzellen, die täglich erneuert werden. Oder anders gesagt: Pro Jahr werden rund zwei Prozent der sich neu bildenden Nervenzellgruppe innerhalb des Hippocampus regeneriert, und diese Neubildungsrate verringert sich nur unwesentlich mit dem Alter.“ Das Ausmaß der Neurogenese erscheint viel und doch zugleich wenig, bedenkt man die Milliarden Nervenzellen im gesamten Gehirn.

Unbeantwortet bleibt eine weitere Kernfrage, nämlich inwieweit diese Nervenzellneubildung tatsächlich wichtig für den Menschen und seine Hirnfunktion ist. „Der Hippocampus ist eine evolutionär sehr alte Hirnstruktur. Die wichtigen höheren kognitiven Funktionen des Menschen, die uns u.a. von den Tieren unterscheiden, liegen jedoch in der Hirnrinde, dem sogenannten „Cortex“. Mithilfe der Radiocarbonmethode konnte gezeigt werden, dass hier im gesunden Erwachsenen keine Nervenzellneubildung erfolgt. Es wird nun spannend sein zu untersuchen, ob neurologische Erkrankungen, die den Cortex betreffen, auch dort eine Nervenzellneubildung auslösen können – denn dann wäre das Thema „Neurogenese“ auch aus Sicht des Arztes wirklich relevant“, so Huttner. Mit der Radiocarbonmethode untersucht Huttner derzeit in Zusammenarbeit mit Kollegen, ob es etwa eine Nervenzellneubildung in der menschlichen Hirnrinde nach Schlaganfall gibt.

*Kirsty L. Spalding K.L., Bergmann O., Alkass K., Bernard S., Salehpour M., Huttner H.B., Boström E., Westerlund I., Buchholz B., Possnert G., Mash D., Druid H., Frisén J.: „Dynamics of hippocampal neurogenesis in adult humans“, Cell, Volume 153, Issue 6, 1219-1227, 6 June 2013. Doi: 10.1016/j.cell.2013.05.002

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Dr. med. Hagen B. Huttner
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