Angezweifelte Molekülstruktur geklärt – Erkenntnisse von FAU-Chemikern beenden Langzeitdebatte

Nahaufname des Einkristalldiffraktometers. Der untersuchte Kristall befindet sich geschützt unter der Düse in der Mitte des Aufbaus. Bei Temperaturen von -233°C friert die in der Umgebungsluft enhaltene Feuchtigkeit aus und bildet Vereisungen (erkennbar als weißer Dunstschleier und am gebildeten „Eisbart“). (Bild: Frank Heinemann)
Nahaufnahme des Einkristalldiffraktometers. Der untersuchte Kristall befindet sich geschützt unter der Düse in der Mitte des Aufbaus. Bei Temperaturen von -233°C friert die in der Umgebungsluft enthaltene Feuchtigkeit aus und bildet Vereisungen (erkennbar als weißer Dunstschleier und am gebildeten „Eisbart“). (Bild: Frank Heinemann)

Ein Kreuz mit einer winzigen Kugel in der Mitte und vier ausgebreiteten Armen: So wird, stark vereinfacht, ein Kohlenstoffatom dargestellt. Zu Beginn des Chemieunterrichts lernen Schüler an diesem Modell, dass jedes derartige Atom höchstens vier Bindungen eingehen kann. Für die bekannten klassischen Teilchen gibt es daran keinen Zweifel.

Schon seit langem wird jedoch über besonders reaktionsfreudige Kohlenstoff-Verbindungen mit einer sogenannten nichtklassischen Struktur diskutiert, die über fünffache oder sogar darüber hinausreichende Bindungskapazitäten verfügen. Im Röntgenlabor des Lehrstuhls für Anorganische und Allgemeine Chemie der FAU ist nun die Kristallstrukturanalyse des Prototyps eines solchen sogenannten nichtklassischen Carbokations gelungen. Am Freitag, den 5. Juli 2013, veröffentlicht die Zeitschrift „Science“ dieses für die organische Physikochemie bahnbrechende Ergebnis.1)

Das organische Molekül mit der unter Chemikern geläufigen Bezeichnung 2-Norbornyl-Kation hatte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine erbitterte Debatte über dessen Struktur ausgelöst. Führende Wissenschaftler wie George A. Olah und Herbert C. Brown, beide US-amerikanische Chemiker und Nobelpreisträger für Chemie (Brown, 1979 und Olah, 1994), stritten öffentlich und sehr heftig darüber, ob sogenannte nichtklassische Ionen mit symmetrischer Struktur darzustellen seien. Auch Paul von Ragué Schleyer, bis 1998 Ordinarius für Organische Chemie an der FAU, griff auf der Seite der Befürworter einer nichtklassischen Formulierung in die Diskussion ein.

Bei den umstrittenen 2-Norbornyl-Molekülen handelt es sich um Ionen mit positiver elektrischer Ladung (Kationen). Für eine nichtklassische Struktur solcher Kationen sprach ihre überraschend hohe Bereitschaft, chemische Verbindungen einzugehen. Allerdings gelang es nicht, die notwendige Symmetrie des Moleküls endgültig nachzuweisen. Zwar konnten im Lauf der Jahre zahlreiche Belege für eine symmetrische nichtklassische Struktur gesammelt werden, ein unwiderlegbarer Beweis für diese Struktur stand jedoch bislang aus.

Grundlagenforscher der Universität Freiburg, der University of Georgia und der FAU haben jetzt die bisherigen Hindernisse überwunden und die kristalline Struktur bestimmt. Die Freiburger Chemiker um Ingo Krossing konnten geeignete Kristalle eines 2-Norbornyl-Salzes herstellen, das sie mit spektroskopischen und theoretischen Methoden untersuchten. Bei der anschließenden Röntgenkristall-Strukturanalyse im Labor von Karsten Meyer, Inhaber des Erlanger Lehrstuhls für Anorganische und Allgemeine Chemie, waren zahlreiche Schwierigkeiten zu überwinden.

Als stabil erwiesen sich die Kristalle nur bei tiefen Temperaturen. Oberhalb von –60 °C waren sie dagegen hochempfindlich und durch Luft sowie Feuchtigkeit extrem leicht angreifbar. Diese Empfindlichkeit von 2-Norbornyl-Systemen steht im Zusammenhang mit einer dem Molekül innewohnenden Dynamik und stand einem Erfolg zahlreicher früherer Versuche zur Strukturbestimmung vermutlich im Weg.

In wohlgeordneter Form traten die Moleküle erst bei Minusgraden auf, wie sie durch Stickstoffkühlung, die heute in den meisten Röntgenlaboratorien üblich ist, nicht erreicht werden kann. Ab –187 °C begann der Prozess der Stabilisierung. Das heliumgekühlte Einkristalldiffraktometer im Erlanger Labor ermöglichte es, Röntgendaten an mehreren Kristallen bei –233°C zu messen, 40 Grad über dem absoluten Nullpunkt. Diese Ergebnisse konnten mehrfach reproduziert werden.

Der Nobelpreisträger Herbert Brown hat im Gegensatz zu seinem Kontrahenten George Olah die Lösung ihrer Auseinandersetzung nicht mehr erlebt. In den Chemielehrbüchern der Zukunft jedoch wird ein bisher offenes Kapitel abgeschlossen sein.

1) doi: 10.1126/science.1238849

Weitere Informationen:

Prof. Dr. Karsten Meyer
Tel.: 09131/85-27360
karsten.meyer@fau.de

Dr. Frank W. Heinemann
Tel.: 09131/85-27383
frank.heinemann@fau.de