„Wenn unser Land uns braucht“

Prof. Dr. Julia Obertreis (Bild: privat)
Prof. Dr. Julia Obertreis

Warum trotz des starken Wunsches nach Frieden die Ukrainer bereit wären, für ihr Land zu den Waffen zu greifen, erklärt Prof. Dr. Julia Obertreis, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte mit dem Schwerpunkt der Geschichte Osteuropas an der FAU.

Die Nachrichten von der Krim beunruhigen täglich die Welt. Ukraine und Russland stehen womöglich  an der Schwelle zu einem militärischen Konflikt. Gestern meldeten die Nachrichtenagenturen den ersten getöteten Soldaten. Die Menschen auf der Krim, in der Ukraine haben Angst – das ist offensichtlich. Dennoch machen sie immer wieder, auch und gerade vor den westlichen Kameras, ganz klar: Wie sehr sie sich auch eine friedliche Lösung wünschen, sie würden keine Sekunde zögern zu den Waffen zu greifen, wenn – so ein Originalzitat – „ihr Land sie braucht.“ Eine Aussage, die hierzulande nicht selten Befremden auslöst: Zu den Waffen greifen? Freiwillig? Mit Ende des Zweiten Weltkriegs schien eine solche, fast archaisch anmutende, Haltung ein für alle Mal ad acta gelegt.

Doch mit seiner geringen Begeisterung in der Bevölkerung für die eigene Armee und dem weit verbreiteten pazifistischen Gedankengut ist Deutschland im internationalen Vergleich wohl eher eine Ausnahme als die Regel. In der Bundesrepublik hat die nationalsozialistische Vergangenheit längerfristig zu einer Desavouierung von Nationalstolz und Patriotismus geführt, die sich bis heute auswirkt. Zudem hat die Friedensbewegung ihre Spuren hinterlassen. Zwar ist die Bundeswehr seit den 1990er Jahren an internationalen Einsätzen beteiligt, aber dies ist nicht von patriotischen Hochgefühlen, sondern eher von kritischen Debatten begleitet. Deutschland ist, so gesehen, gegenwärtig ein sehr ziviles Land. (Dass in Deutschland produzierte Waffen in viele Länder exportiert werden und in Kriegen zum Einsatz kommen, dürfen wir dabei freilich nicht vergessen…)

Ganz anders die ehemalige Sowjetunion: Sie war hochgradig militarisiert, und dieses Erbe prägt die meisten Nachfolgestaaten bis heute. In Russland sieht man häufig Männer in Uniform in der Öffentlichkeit, ob Angehörige der Landstreitkräfte oder der Marine, Kadetten, Polizisten, oder Sondereinheiten des Innenministeriums wie die berüchtigten OMON-Truppen. Der „Tag des Verteidigers des Vaterlandes“ ist ein Feiertag (23. Februar), der auf die frühsowjetische Zeit zurückgeht und heute sowohl in Russland als auch in der Ukraine gefeiert wird. Wehrkundeunterricht war fester Bestandteil von Schule und Studium. Nach wie vor werden zum Jahrestag des Sieges im Zweiten Weltkrieg ausgedehnte Truppenparaden abgehalten. Jede größere Buchhandlung in Russland hat eine Abteilung zu Militärliteratur, und populäre Darstellungen von Kriegstechnik und Kriegsgeschehen erfreuen sich großer Beliebtheit. Seit 2004 gibt es in Russland einen Zivildienst, aber da dieser wesentlich länger dauert als der Militärdienst, meist sehr schlecht bezahlt und wenig angesehen ist, entscheiden sich nur sehr Wenige dafür.

Kurzum: Das Militär und militärische Erfolge in der Vergangenheit sind in weit größerem Maße in der Öffentlichkeit präsent als das hier in Deutschland der Fall ist; die Armee ist eine Quelle des patriotischen Stolzes für viele Menschen. Der Sieg im Zweiten Weltkrieg war in der Sowjetunion eine der wichtigsten Grundlagen für die Legitimation des Regimes und wurde entsprechend inszeniert und zu einem Kult erhoben.

Das gilt, wenn vielleicht auch in geringerem Maße, ebenso für die Ukraine. Wenn jetzt also Bürger in der Ukraine bereit sind, mit der Waffe in der Hand für die Ukraine zu kämpfen oder, anders herum, für die Zugehörigkeit ihrer Region zu Russland, dann sollte dies kaum verwundern: Der Dienst an der Waffe hat zum einen dort niemals so sehr an Bedeutung verloren wie in Deutschland. Das hat auch mit Geschlechterrollen zu tun: Der Mann als Kämpfer und Verteidiger der Heimat ist positiv konnotiert.

Zum anderen geben die dramatischen Ereignisse in der Ukraine Anlass zur Radikalisierung, auch wenn oder gerade weil vieles unübersichtlich ist. Die „Maidan“-Bewegung blieb zwar zunächst friedlich, war aber sehr kämpferisch gestimmt. Janukowitschs Regierung wurde als unterdrückerisch empfunden, unter anderem weil Korruption und Selbstbereicherung sehr große Ausmaße angenommen hatten. Auf dem Maidan in Kiew gaben auch viele Frauen in Interviews zu Protokoll, man müsse kämpfen bis zum Ende, das heißt bis zum Sturz des alten Regimes, der ja – zumindest vorläufig – erreicht ist.

Der Kampf des Volkes für sein Recht und seine Freiheit und gegen eine als unterdrückerisch und illegitim empfundene Herrschaft kann sich auf historische Wurzeln berufen. Die Ukraine hat zwar – ganz anders als Polen – keine nationalstaatliche Tradition, aber man beruft sich auf die Dnepr-Kosaken, deren Herrschaftsverband im 17. Jahrhundert als Ursprung der ukrainischen Nation begriffen wird oder (im Westen des Landes) auf den sehr umstrittenen Stepan Bandera, der während des Zweiten Weltkriegs, als große Teile der Ukraine von den Deutschen besetzt waren, für eine ukrainische Unabhängigkeit kämpfte.

In Kiew und auf der Krim  überstürzten sich in den letzten Wochen die Ereignisse: Nun richtet sich der Volkszorn zum Teil gegen Russland, das die Krim, wenn man so will, „der Ukraine abgenommen hat“. Die Menschen befürchten, dass Russland mit der Ostukraine ähnlich verfahren könnte. Diese Bedrohung ist real, daher ist es nicht verwunderlich, dass sich Männer freiwillig zu den Waffen melden. Wie lange diese Begeisterung anhält und welche Ausmaße sie hat, wird sich zeigen. Zumal sich die ukrainische Armee derzeit in einem desolaten Zustand befindet, was mit der tiefgehenden ökonomischen Krise des Landes zusammenhängt. Gegen die russischen Streitkräfte hat die Armee der Ukraine keine Chance –  und das ist wohl auch allen politischen Kräften klar. In beiden Ländern sprechen sich zudem trotz allem die meisten Menschen klar gegen einen Krieg aus. Und so ist zu hoffen, dass es nicht zu einem militärischen Konflikt kommen wird.

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Prof. Dr. Julia Obertreis
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