„Physikalische Größen sind nichts anderes als quantitative Metaphern“

Viele der physikalischen Größen sind nichts anderes als Metaphern, meint FAU-Physiker Klaus Mecke. (Bild: David Hartfiel)
Physiker Prof. Dr. Klaus Mecke (Bild: David Hartfiel)

Der theoretische Physiker Klaus Mecke erklärt, inwiefern wir bei dem Versuch, uns die Phänomene der Natur begreiflich zu machen, immer wieder auf sprachliche Erfindungen zurückgreifen müssen.

Protokoll: Ralf Grötker

 

 

Literatur kann die Lebensnähe und Vielfalt der Physik hervorragend darstellen.

Ich interessiere mich schon lange dafür, wie mein Fach, die Physik, in der Literatur gespiegelt wird. Über die Jahre habe ich eine kommentierte Bibliographie zu dem Thema aufgebaut und sogar Vorträge dazu gehalten. Dabei wurde ich immer gefragt, was ich als Physiker davon habe, mich mit Literatur zu befassen. Viele Jahre war meine Antwort auf diese Frage : „Eigentlich nichts.“ Physik hat vor allem mit Experimenten und mathematischen Modellen zu tun. Fiktive Literatur spielt dabei keine Rolle.

Das änderte sich, als wir hier in Erlangen vor vier Jahren mit einem intensiven interdisziplinären Austausch zwischen Literatur und Physik begannen. Dazu gehörten auch Interviews mit Schriftstellern; ein Band mit diesen Interviews wird bald veröffentlicht. Einer unserer Interviewpartner war der österreichische Dichter und Romancier Raoul Schrott. Er hat mich gefragt, was ich als Physiker eigentlich mit Metaphern anfange. Das hat mich dazu gebracht, mich mit dem Thema „Metaphern in der Physik“ eingehender zu befassen.

Dass Metaphern nicht nur eine literarische Ausdrucksform sind, sondern auch eine erkenntnisleitende Funktion haben, ist heute bereits so etwas wie Common Sense. Ein bekanntes Beispiel dafür ist ,wie der große Chemiker August Kekulé Erzählungen zufolge einmal von einer Schlange träumte, die sich in den Schwanz beißt – und so auf die Idee kam, wie die atomare Struktur des Benzols aussehen könnte, für deren Entdeckung Kekulé berühmt geworden ist.

Ich glaube aber, dass Metaphern für die Naturwissenschaften und insbesondere die Physik noch auf viel grundlegendere Weise eine Rolle spielen. Genau betrachtet, sind nämlich viele der physikalischen Größen selbst nichts anderes als quantitative Metaphern. Wir haben uns heute beispielsweise daran gewöhnt, dass es elektromagnetische Felder gibt. Diese „Felder“ sind eine Erfindung der Physik des 19. Jahrhunderts. Der Experimentalphysiker Michael Faraday, auf den diese Erkenntnis zurückgeht, ringt in seinen Laborbucheintragungen förmlich damit, wie er das Beobachtete sprachlich beschreiben soll, und welche Art von weiteren Experimenten nötig ist, um die Beobachtungen dingfest zu machen. Erst nachdem er konkrete Messvorschriften gefunden hatte, wie er das, was er mit der von ihm gewählten Metapher „Feld“ auch quantitativ fassen konnte – nämlich eine Skala, auf der man die Dichte von Eisenspänen ablesen kann – konstituiert sich ein neues physikalisches Objekt: das elektromagnetische Feld. Meiner Ansicht nach ist übrigens das, was man hier in der Wissenschaftsgeschichte verfolgen kann, die ehrenvollste Aufgabe der Physik überhaupt: unseren Wahrnehmungsbereich zu erweitern, die Vielfalt der Phänomene in der Natur zu entdecken.

Metaphern in Zahlen überführen

Aber weiter. Gerade in einer explorativen Phase der Physik, in der jemand eine neue Größe einführt, wird deutlich, dass es dabei weniger um das Auffinden eines neuen Dings geht als vielmehr um einen Metaphernbildungsprozess. Man weiß aus der Alltagserfahrung, was ein „Feld“ ist, und überträgt dies dann bildlich auf die Phänomene des Elektromagnetismus. Wesentlich dabei ist allerdings das Bestreben, Kontextunabhängigkeit zu erreichen. Der Physiker versucht, alle möglichen Bedingungen, die sich auf ein Phänomen auswirken, ganz explizit zu benennen, sodass die Experimente, die zur Erzeugung oder Beobachtung eines Phänomens notwendig sind, in anderen Kontexten reproduzierbar werden. Dazu wiederum braucht es Messgrößen oder Skalen: An der Gleichheit der Messergebnisse kann man ablesen, ob der Versuch, kontextunabhängige Phänomene zu finden, geglückt ist.

Physiker mit einer Leidenschaft für das Wort: Prof. Dr. Klaus Mecke, Lehrstuhl für Theoretische Physik. (Bild: David Hartfiel)
Physiker mit einer Leidenschaft für das Wort: Prof. Dr. Klaus Mecke, Lehrstuhl für Theoretische Physik. (Bild: David Hartfiel)

Dass Metaphern in Zahlen überführt werden, ist aber noch aus einem anderen Grunde von Bedeutung für die Physik. Ein Beispiel: Georg Simon Ohm – geboren in Erlangen – hat herausgefunden, dass Strom und Spannung sich entsprechen. Der Grund, weshalb dies vor ihm niemand hatte sehen können, ist, dass es sich bei „Strom“ und „Spannung“ um verschiedene Mess-Erzählungen handelt, deren Ergebnisse von den Details des Versuchs abhängen. Ohm hat nichts anderes getan, als den üblichen Versuchsaufbau zu verändern, indem er als Spannungsquelle nicht eine Voltasche Säule, sondern ein Thermoelement einführte. Infolgedessen konnte er mit einem Blick sehen, dass zwischen Strom und Spannung eine einfache Proportionsbeziehung besteht. Es bedurfte nicht einmal eines mathematischen Modells, um das zu erkennen: „Strom ist Spannung.“ Das Beispiel zeigt deutlich, wie Messskalen nicht nur die Objektivierbarkeit von Beobachtungen ermöglichen, sondern auch die Übertragung von einer Größe oder einem Konzept auf das andere. Für diese Übertragung braucht es Gleichheit der Zahlen. Ohne die Gleichheit der Zahlen – etwa von gemessener träger und schwerer Masse – hätte auch Einstein niemals begründen können, dass Energie einer Krümmung entspricht. In der unmittelbaren Erfahrung liegen diese beiden Konzepte einfach zu weit auseinander, als dass man sie übereinanderbringen könnte.

Weder Ding noch Eigenschaft

Die Geschichte geht aber noch weiter. Das nämlich, was man am Beispiel des elektromagnetischen Felds so schön deutlich nachvollziehen kann, gilt eigentlich für alle physikalischen Größen. Auch Temperatur wird im Grunde durch eine Mess-Erzählung definiert: Temperatur ist das, was man mit einem Thermometer misst. In manchen physikalischen Lehrbüchern steht freilich etwas anderes. Nach den Definitionen, die dort gegeben werden, ist Temperatur kinetische Energie. Für ein ideales Gas beispielsweise kann die statistische Physik zeigen, dass die Temperatur im Wesentlichen der Geschwindigkeitsenergie entspricht, die in den einzelnen Gasteilchen enthalten ist. Aber in dieser Definition steckt bereits eine ganze Reihe von Modellannahmen über die Materie. Ich frage mich: Warum sollte es all dieser Annahmen bedürfen, um zu definieren, was Temperatur ist? Historisch betrachtet, existierte der Begriff schließlich als physikalische Größe schon lange, bevor es eine atomare Vorstellung von Gasen oder Flüssigkeiten und kinetischer Energie gab. Der Temperaturbegriff ist davon völlig unabhängig.

Der allgemeinere Punkt, um den es mir geht, lässt sich sehr schön veranschaulichen am Beispiel der Wissenschaftsgeschichte von Licht. Nebenbei bemerkt: Licht hat lauter Superlative. Es ist das älteste Phänomen, das wir als kosmische Hintergrundstrahlung messen können. Es ist das einzige Objekt, welches massenlos ist. Durch Licht erfahren wir die entferntesten Dinge, aber auch die ältesten – wenn man an das Licht längst erloschener Sterne denkt. Was ist Licht? Newton hat im 17. Jahrhundert Licht als eine Bewegung von Teilchen verstanden, von Korpuskeln, die sich mit einer bestimmten Geschwindigkeit ähnlich wie Bälle geradlinig durch die Luft bewegen. Phänomene der Brechung von Licht ließen sich mit dieser Theorie sehr gut beschreiben. Weniger gut erklären ließen sich Phänomene wie etwa die unscharfen Ränder von Schatten oder die Interferenzen von Lichtstrahlen in dem berühmten Doppelspaltexperiment. Bei diesem Experiment schickt man Licht durch zwei nahe beieinanderliegende Schlitze. Auf einem Projektionsschirm, auf den die Lichtstrahlen auftreffen, zeigen sich jedoch nicht zwei separate Helligkeitsstreifen, sondern ein Muster von Lichtstreifen. Die Erklärung für diesen Effekt ist, dass sich das Licht so verhält wie Wellen auf dem Wasser, die sich teils gegenseitig teils verstärken, teils aufheben. Deshalb wurde, ebenfalls noch im 17. Jahrhundert, die Wellentheorie des Lichts von Physikern wie Robert Hooke und Christiaan Huygens aus der Taufe gehoben. Mit Faraday und der Einführung des Konzepts eines elektromagnetischen Felds erkannte man, was bei Licht schwingt: nicht Wasser, sondern elektromagnetische Felder.

Mit der Entdeckung von Quanteneffekten änderte sich die vorherrschende Theorie erneut. Auf einmal nämlich konnte man die Korpuskeleigenschaften des Lichts, deren Existenz Newton und seine Zeitgenossen in ihren Modellen lediglich vermutet hatten, messen! Man konnte plötzlich Korpuskelphänomene tatsächlich beobachten! Die geschieht etwa, indem man Licht auf ein Stück Metall fallen lässt und dann die Elektronen erfasst, die dabei durch das Licht regelrecht herausgeschlagen werden. „Fotoeffekt“ nennt man das. Einstein hat von diesem Effekt auf den Teilchencharakter des Lichts geschlossen. Dennoch brauchte es gleichzeitig das Modell der Welle, um die im Doppelstrahlenexperiment zutage getretenen Interferenzeffekte erklären zu können. Einstein hat dafür, dass sich Licht sowohl als Teilchen wie als Welle zeigt, eine neue Metapher erfunden. Licht ist ein „Quant“ – also eine begrenzte, räumlich lokalisierte Menge, deren weitere Gestalt aber durch Welleneigenschaften definiert ist.

Gerade durch die Quantentheorie ist deutlich geworden, dass das, was wir als dingliche Realität ansehen, also eine Welt der Dinge mit ihren Eigenschaften, gewissermaßen eine Fiktion, eine Modellerzählung ist. Es ist etwas, das wir mit unseren Begriffen herstellen, ohne dass dies in der Natur so angelegt wäre.An der Debatte über Licht und Teilchen sieht man auch, wie schwierig es ist, sich sprachlich eine physikalische Welt zu vergegenwärtigen, die nicht aus Dingen und ihren Eigenschaften besteht, sondern aus physikalischen Größen, die weder Ding noch Eigenschaft sind. Bei dem Versuch, uns dies irgendwie begreiflich zu machen, sind wir notwendig auf Metaphern angewiesen.

Die Welt als erzählte Naturerfahrung

In meinen Augen ist es nicht nur eine Finesse, ob man die Welt als erzählte Naturerfahrung begreift, wie die Quantentheorie dies nahelegt, oder ob man, wie das normalerweise geschieht, die Existenz einer Welt von Dingen und Eigenschaften annimmt. Physik als eine Sprachhandlung zu begreifen ermöglicht es nämlich, objektive Naturgesetze mit Phänomenen der Freiheit des Denkens und Handelns, mit Geschichtlichkeit und kulturellen Phänomenen zusammenzubringen. Naturgesetze geben nur einen Rahmen vor für das, was geschieht und legen daher lediglich fest, wie etwas geschieht, wenn es geschieht. Alles andere – ob es geschieht, aber auch aus welcher Ursache heraus es geschieht – das ist offen.

Ein Determinist, der die Vorherbestimmtheit allen Geschehens durch die Gesetze der Physik behauptet, ist der Meinung: „Wenn man die Anfangskoordinaten aller Punktteilchen kennen würde, aus denen sich die Welt zusammensetzt, dann könnte man vorhersagen, wie diese miteinander agieren werden. Dass wir Vorhersagen solcher Art in der Praxis nicht treffen können, ist allein der Tatsache geschuldet, dass die Welt so mannigfaltig ist, dass wir nicht einmal für einen kleinen Ausschnitt derselben die Koordinaten aller Punktteilchen erfassen können. Diese Beschränkung, die uns auferlegt ist, ändert jedoch nichts daran, dass die künftigen Zustände der Welt durch die Anfangskoordinaten bereits festgelegt sind.“

Ich meine, dass diese Form von Determinismus problematisch ist, weil sie das mathematische Konzept einer aus Punktteilchen bestehenden Welt rücküberträgt auf die Natur. Die mathematischen Objekte der Physik werden dadurch plötzlich zu Dingen in der Welt – so wie dies beispielsweise auch mit der populären Rezeption der String-Theorie geschah. Tatsächlich hat noch nie jemand „Strings“ beobachten können; und ob es sinnvoll ist, die Existenz von Strings anzunehmen, ist höchst umstritten. So oder so sind Begriffe wie „Strings“ und „Punktteilchen“ in Wirklichkeit nur Metaphern, mit deren Hilfe wir uns den Phänomenen der Natur nähern.

Der Beitrag basiert auf Klaus Meckes Aufsatz „Zahl und Erzählung. Metaphern in Erkenntnisprozessen der Physik“, erschienen in A. Heydenreich und K. Mecke (Hrsg.), Quarks and Letters: Naturwissenschaften in der Literatur und Kultur der Gegenwart, 2014

Neugierig geworden?

Dieser Text erschien zuerst in unserem Forschungsmagazin friedrich zum Thema Licht. Lesen Sie im friedrich Nr. 114, warum die letzten Worte Goethes für die Wissenschaft ein Auftrag sind, was Licht ist, woher es kommt, warum wir es sehen, was Licht mit uns macht.

Weitere Beiträge aus dem Magazin finden Sie auch hier im Blog, unter dem Stichwort „friedrich“.