Lieber ausschließen als diagnostizieren

Prof. Dr. Thomas Kühlein über die Bedeutung der Allgemeinmedizin. (Bild: FAU)
Prof. Dr. Thomas Kühlein über die Bedeutung der Allgemeinmedizin. (Bild: FAU/Georg Pöhlein)

Prof. Dr. Thomas Kühlein über die Bedeutung der Allgemeinmedizin

Herr Professor Kühlein, Sie waren selber lange als niedergelassener Arzt tätig. Was hat Sie daran gereizt, wieder zurück an die Uni zu gehen?

Das waren gleichzeitig Abstoßungs- und  Anziehungskräfte. Ich fühlte mich als Hausarzt wie ein Tennisspieler am Netz mit einer wildgewordenen Ballmaschine vor mir. Wir haben in Deutschland über alle Fachgebiete hinweg pro Jahr pro Mensch Zahlen von Arzt-Patienten-Kontakten, die liegen irgendwo bei 17. In Skandinavien liegen die bei 2 bis 4. Das eine war also zu sehen, unter was für Bedingungen ich arbeite. Und das andere war, dass in den 90er-Jahren die evidenzbasierte Medizin entwickelt wurde, die die Behandlung an empirisch nachgewiesener Wirksamkeit ausrichtet. Als Arzt möchte ich wissen: Hilft es oder nicht, und wenn ja wie viel und mit welcher Wahrscheinlichkeit?

Ich fühlte mich wie ein Tennisspieler am Netz mit einer wildgewordenen Ballmaschine vor mir.

Ein Beispiel: Bei der Mandelentzündung hat man immer Antibiotika gegeben ohne den Effekt mit einer placebokontrollierten Studie zu überprüfen. Dabei hat man vor einigen Jahren in England festgestellt, dass der Therapieeffekt zwischen Antibiotikum und Placebo etwa bei einem Tag schneller „gesund“ liegt. Das ist alles. Und da habe ich plötzlich gemerkt: Ein riesiger Anteil der Bedrängung ist künstlich erzeugt. Und habe den Patienten immer weniger verschrieben. Das hat zu Konflikten mit Kollegen geführt. So entstanden die Abstoßungskräfte. Gleichzeitig wurde die Uni immer lauter, die sagte, dich hätten wir gerne.

Hausärzte werden in Deutschland oft belächelt. Woran liegt das?

Jede Organisation und auch jedes Krankenhaus, jede Praxis lebt von einer gesunden Mischung von Spezialisten und Generalisten. Die Generalisten, also die Hausärzte, wurden in der Vergangenheit vernachlässigt. Diese Entwicklung ist geschichtlich bedingt: Im 18. Jahrhundert haben die Ärzte angefangen, den Menschen in immer kleinere Teile zu „zerlegen“: Die Krankheit liegt also nicht im gesamten Menschen begraben, sondern es ist an einem bestimmten Teil im menschlichen Körper etwas nicht in Ordnung. Und jetzt kommen wir von dieser Entwicklung nicht wieder weg. Wir denken nicht, dass zwischen den einzelnen Teilen auch Zusammenhänge bestehen können – und zwischen den Fachgebieten, die diese Teile behandeln.

Allgemeinmediziner Prof. Dr. Thomas Kühlein (Bild: Georg Pöhlein)
Allgemeinmediziner Prof. Dr. Thomas Kühlein (Bild: FAU/Georg Pöhlein)

Die Arbeitsteilung ist in der Medizin, wie auch überall in der Wirtschaft, stark und erfolgreich geworden und sie hat ja auch enorme Vorteile. Ich bin immer wieder begeistert, wie viel man wissen kann in einem Fachgebiet. Der Allgemeinmediziner ist grundsätzlich in seinem Wissen defizitär. Überall weiß er wenig. Aber gleichzeitig, und das wird leicht vergessen, weiß er fast überall mehr als jeder Spezialist – nur in dem Fachgebiet des Spezialisten eben nicht. Ich will gar nicht Spezialisten gegen Generalisten setzen, sondern sagen: Wir brauchen neue Kooperationsformen. Und das wird dann hoffentlich dazu führen, dass man sich gegenseitig mehr wertschätzt, dass man sich besser in seiner Herangehensweise versteht.

Was muss sich ändern, um den Beruf des Allgemeinmediziners zu stärken?

Ich würde mir zwei Dinge wünschen: Das eine ist eine strikte Trennung zwischen Primär- und Sekundärmedizin. Als Primärmedizin bezeichnet man den ersten Kontakt zwischen Arzt und Patient in einem Gesundheitswesen. Und das zweite ist eine suffiziente Ausbildung bzw. Weiterbildung der Primärmediziner für ihre Aufgaben. Wir haben beides nicht.

Warum die strikte Trennung zwischen Primär- und Sekundärmedizin?

Die Mehrzahl der akuten Fälle in der Hausarztpraxis sind Interpretationen oft völlig normaler Körperwahrnehmungen als mögliches Zeichen einer Krankheit. Wenn ich jetzt mit allen Mitteln diagnostiziere, werde ich viele Fehlbefunde produzieren, Angst und Unruhe beim Patienten erzeugen und nicht mehr in der Lage sein, dem Patienten die Sorgen zu nehmen. Als Allgemeinmediziner müssen Sie gelernt haben, dass Sie in der Hausarztpraxis Krankheiten besser ausschließen können.

Man muss nicht weinen über diese Situation, dass man nicht diagnostizieren kann, sondern ich muss jubeln, dass ich wahnsinnig gut ausschließen kann. Und wenn ich das tue, dann kann ich den Patienten mit hoher Sicherheit falsch-positive Befunde ersparen. Und erst wenn ich sage: „Nein, ich kann es nicht ausschließen“, schicke ich den Patienten weiter zum Sekundärmediziner, der mit einem ganz anderen „Waffenarsenal“ auf die zugeht – und das dann zu Recht. Wenn wir aber Leute haben, die ihre Facharztausbildung in den Krankenhäusern machen und sich dann niederlassen, dann benehmen sie sich nicht wie Primärmediziner. Denn im Krankenhaus haben sie ständig das Schlimmste gesehen und suchen dementsprechend danach. Deshalb brauchen wir eine strikte Trennung zwischen Sekundär- und Primärmedizin.

Ein Beispiel …

Wenn ein Patient einen Herzinfarkt erleidet, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass er noch einmal einen bekommt, sehr hoch. Denn was auch immer die Risikofaktoren waren, hier ist es passiert. Um das Risiko zu senken, benötigt der Patient drei Medikamente: Betablocker, um den Blutdruck zu senken, Statin, um das Cholesterin zu senken, und Aspirin als Gerinnungshemmer. Zusätzlich muss der Patient natürlich gesund leben – nicht rauchen, nicht zu viel Fleisch essen, sich viel bewegen. Wenn er das macht und die drei Medikamente bekommt, dann sinkt das Risiko, erneut einen Herzinfarkt zu erleiden, von weit über 50 Prozent auf den Bereich ab, den Leute haben, die noch nie einen Infarkt hatten. Wenn ich aber in meine Datenbank schaue, dann erhalten nur 23 Prozent der Herzinfarkt-Patienten alle drei Medikamente. Gleichzeitig diskutieren Kardiologen, ob man nicht noch ein viertes Mittel verschreiben sollte, dass das Risiko noch einmal um 0,5 Prozent senkt. Wo wir Hausärzte doch, wenn wir eine funktionierende, wohlorganisierte, entspannte Primärmedizin hätten, dramatisch mehr Herzinfarkte verhindern könnten. Aber das wird nicht verfolgt. Im Moment haben wir ein fachärztliches Übergewicht, ein Übergewicht der Spezialisierung. Wir müssen da zu einem gesunden Verhältnis kommen.

Wie hat sich das Medizinstudium geändert seit Sie hier sind?

Wir halten für die Studierenden im 5. Semester eine große Hauptvorlesung. Dort versuchen wir – wenn die Studenten völlig ausgehungert aus der Vorklinik kommen, wo sie Fächer wie Chemie, Physik und Anatomie hatten – ihnen erste Herangehensweisen in der klinischen Medizin mitzugeben. Und dann bieten wir Wahlfächer an, die die Studenten ab dem 5. Semester belegen können, beispielsweise „Consultation Skills“. Das ist die Kunst der Kommunikation von der Aufnahme des Patienten bis zur Entlassung: Dass ich ihm zuhöre und auch verstehe, was er von mir will. Diese 15 Minuten Konsultation sind ein Gesamtkunstwerk. In einem anderen Kurs bearbeiten wir individuelle Fälle. Beispielsweise ein Fall mit einem Patienten, der zehn Medikamente einnimmt, aber gar nicht so viele nehmen will. Die Frage ist: Welches kann ich absetzen? Die Antwort: Das Medikament mit der kleinsten Wirkung. Und woher weiß ich, welches das ist? Anhand der empirischen Studien, die die Wirkung anhand von Placebos untersucht haben.

Wie beurteilen die Studierenden die Kurse?

Die Teilnehmer sind begeistert. Wir hatten jetzt ein paar Ausfälle, weil interessanterweise die meisten Anmeldungen von Studenten kamen, die im Praktischen Jahr sind und jetzt Prüfungen haben. Die haben im PJ gemerkt: Oh Mist, ich bin durch dieses Studium gegangen, und mir fehlt eigentlich, was ich brauche. Ich habe nur einen Studenten, der den Kurs bereits im 8. Semester besucht.

Es gibt an Ihrem Lehrstuhl eine Initiative, die mehr Studierende motivieren soll, später als Hausarzt zu arbeiten. Dafür sollen sie ein Viertel des Praktischen Jahres in einer Landarztpraxis arbeiten. Was ist Ihrer Meinung nach nötig, um den Job attraktiver zu machen?

Es gibt inzwischen viele Initiativen, um „den Landarzt“ zu retten. Das Bayerische Gesundheitsministerium kümmert sich sehr engagiert darum, mehr Ärzte aufs Land zu bekommen. Und das ist auch gut so. Aber ich muss sagen: Ich will den alten Landarzt gar nicht retten. Wenn etwas ausstirbt, dann hat das seinen Grund. Dieser alte Herr mit allen seinen Qualitäten – und ich will nichts Schlechtes darüber sagen – ist einfach nicht die Zukunft. Um den Beruf des Hausarztes, besonders auf dem Land attraktiver zu machen, müssen wir stattdessen zu neuen Kooperationen zwischen Haus- und Facharzt kommen. Wir brauchen Gruppenpraxen, in denen Teilzeit möglich ist; wir brauchen verbesserte Kommunikationsmöglichkeiten zwischen den Ärzten.

Wie empfinden die Studierenden ihre Zeit in der Landarztpraxis?

Die sind, soweit ich weiß, durchweg begeistert. Die Erfahrung in einer Landarztpraxis bietet ihnen auch viel. Wenn sie Allgemeinarzt werden wollen und sie machen das in der Stadt, werden sie merken, dass viele Patienten direkt zum Facharzt gehen. Ich habe selbst die Erfahrung gemacht, dass ein Patient wegen Bluthochdruck zum Kardiologen wollte. Dabei ist das klar die Aufgabe des Hausarztes. Als Allgemeinmediziner in der Stadt bleiben ihnen dann noch Husten, Schnupfen, Heiserkeit. Wenn sie hingegen auf dem Land sind, lernen sie das komplette Spektrum an Krankheiten kennen. Deswegen habe ich selber immer versucht, ländlich zu arbeiten, weil das Spektrum viel größer ist und es viel mehr Spaß macht.

Wir haben auch festgestellt, dass die Idealvorstellung der Studierenden vom Arztsein sich mit dem Selbstbild der Landärzte deckt: Dass ich als Arzt für Menschen zuständig bin und nicht nur für Organe. Wenn Sie Studenten aber fragen, was in ihrer Vorstellung der Landarzt macht, dann denken sie, der muss immer nachts um zwei mit seinem kleinen Köfferchen losdüsen. Dass er die meiste Zeit des Tages vollumfänglich für Menschen verantwortlich ist und eine Beziehung zu ihnen hat, sehen sie nicht. Deswegen ist es wichtig, die Studenten mit den Landärzten zusammenzubringen. Damit sie merken, wie breit das Spektrum ist und was er alles leistet, bevor er einen Patienten an einen Facharzt verweist.

Woran forschen Sie als Allgemeinmediziner?

Wir machen an der FAU Versorgungsforschung. Wir gehen dabei folgenden Fragen auf den Grund: Wie läuft die Patientenversorgung? Funktioniert sie gut? Welcher Aufwand ist dafür nötig? Warum verordnen Ärzte an bestimmten Stellen Antibiotika, die nicht indiziert sind? Gibt es Gründe, die nachvollziehbar sind? Wir gucken uns die Versorgung dabei nicht nur an, sondern als Mediziner, die auch in der Versorgung stecken, probieren wir neue Modelle aus und tragen sie in die Breite.

Weitere Informationen:

Prof. Dr. Thomas Kühlein
Tel.: 09131/85-31140
thomas.kuehlein@uk-erlangen.de