Divination und Börse: Hintergründe zum Börsencrash in China

Bild: PantherMedia/Leung Cho Pan
Bild: PantherMedia/Leung Cho Pan

Meldungen über die Talfahrt der Börsen in China schrecken in diesen Tagen nicht nur Wirtschaftsunternehmen auf. Auch nach der schrittweisen Erholung der Kurse  wirft diese Entwicklung neben der wirtschaftswissenschaftlichen Dimension auch grundsätzliche Fragen auf. Was sind die kulturgeschichtlichen Hintergründe des Börsencrashs? Inwieweit beeinflusst er das politische System in China? Was bedeutet dies für unser Verhältnis zur Volksrepublik?

Der promovierte Sinologe Martin Kroher ist Research Fellow am Internationalen Kolleg für Geisteswissenschaftliche Forschung (IKGF) der FAU, das unter dem Titel ‚Schicksal, Freiheit und Prognose – Bewältigungsstrategien in Ostasien und Europa‘ an vergleichenden Fragestellungen arbeitet. Das Kolleg zielt in Zusammenarbeit mit internationalen Gastwissenschaftlern darauf ab, in und durch die geisteswissenschaftliche Forschung Grenzen zwischen West und Ost, zwischen modern und vormodern zu überwinden. Auf diese Weise wird Wissen  neu nutzbar gemacht, das bisher in der Wissenschaft weitgehend als irrational betrachtet wurde, vor allem über die Kulturtechnik der Divination, also des Versuchs, die Zukunft vorherzusagen und damit beherrschbar zu machen. Historische Strategien zur Schicksalsbewältigung sollen indirekt auch der westlichen Welt helfen, neue Wege zu finden und Brücken in den asiatischen Raum zu bauen.

Was hat Divination mit Aktienhandel und dem chinesischen Börsencrash zu tun? Ist die Art des Wirtschaftens in Asien eine andere als in Europa?

Divination spielt nachweislich wieder eine wichtige Rolle in China, auch im modernen Geschäftsleben. Forscher am IKGF konnten Verbindungen aufzeigen zwischen zeitgenössischem Glücksspiel und alten Divinationstexten wie dem Yijing, dem Buch der Wandlungen. Für diesen Text wird der Anspruch erhoben, dass mit seiner Hilfe alle Veränderungen des menschlichen Lebensraumes (Wandlungen) vorhersehbar sind.

Bezogen auf das Geschehen an der Börse ist es interessant zu wissen, dass man auf Chinesisch Aktienhandel ‚mit Aktien spielen‘ nennt. Das heißt nicht, dass chinesische Börsenhändler von ‚Natur aus‘ risikofreudiger wären als Ihre westlichen Pendants, und sich in ihren Kaufentscheidungen von irrationalem Aberglauben leiten lassen würden. Vielmehr kann man Divination als Mittel betrachten, um die Unwägbarkeiten des menschlichen Lebens in einer sich ständig ändernden Welt, auch die Risiken des Aktienhandels, zu kennen und beherrschbar zu machen. Divination und auch Spiel können also durchaus einen ‚rationalen‘ Hintergrund haben.

Lassen wir auch nicht außer Acht, dass Versuche, die Zukunft kennenzulernen und damit beeinflussbar zu machen, ein allgemeines menschliches Phänomen bilden, das sich in allen Kulturkreisen und allen Zeiten wiederfindet. Es ist genau der Hinweis auf die Irrationalität von Divination, die bisher verhindert hat, dass sich Wissenschaftler ernsthaft damit auseinandersetzen. Das bedeutet aber auch, dass uns nichts anderes übrig bleibt als Menschen, die Divination praktizieren, als irrational und vormodern, als ‚anders‘ abzutun, wie das im Fall der zeitgenössischen chinesischen Divinationspraktiken leicht geschehen kann. Am IKGF setzen wir übrigens genau an diesem Punkt an, und versuchen, diese Kluft zu überbrücken, nicht nur mit Bezug auf China.

Nun zu den direkten Auswirkungen einer möglichen Wirtschaftskrise: Was bedeutet wirtschaftlicher Stillstand oder gar Abschwung für die chinesische Politik?

Einfach ausgedrückt, hat die chinesische Regierung mit ihren Bürgern eine unausgesprochene Vereinbarung getroffen, die neben der politischen Überwachung mit ihren Zensurmechanismen eine wichtige Säule ihrer Herrschaft bildet: ‚Wir geben euch Freiheiten im Bereich der Wirtschaft und legen eine gewisse allgemeine Fürsorge an den Tag, und ihr stellt unsere Herrschaft nicht grundsätzlich massenweise und öffentlich in Frage.‘

Trotz zahlreicher Dissidenten und unzufriedener Minderheiten hat das aus Sicht der Regierung lange ziemlich gut funktioniert, ist aber eben von kontinuierlichem und hohem Wirtschaftswachstum abhängig. Der Börsensturz, aber auch die Katastrophe von Tianjin, die die Schattenseiten des unbegrenzten Wachstums deutlich zeigt, werden nun zur Bedrohung für diese Vereinbarung. Dies ist nicht gleichbedeutend mit einem unmittelbar bevorstehenden Sturz des Systems, das ja noch andere Standbeine hat. Die Erschütterung ist aber spürbar.

Was hat das mit dem Westen und mit unserer Wirtschaft zu tun?

Der Westen spielt eine große Rolle in der oben beschriebenen ‚Vereinbarung‘, denn die gegenseitige Bereitschaft zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit hat das chinesische Wachstum erst ermöglicht. Für das Wirtschaftswachstum hat sich China dem Westen wirtschaftlich geöffnet, und ist ein wichtiger Teil des globalen Marktes geworden. Dadurch ist die chinesische Wirtschaft eng mit der westlichen verbunden, wovon beide Seiten stark profitiert haben. So ist es fraglich, ob die letzte globale Wirtschaftskrise ohne die chinesische Wirtschaftsstärke und Intervention nicht noch viel schlimmer ausgefallen wäre. Andererseits hatte diese Abhängigkeit auch politische Folgen, da es im Interesse der chinesischen Regierung war, im Großen und Ganzen konstruktiv bei der internationalen Staatengemeinschaft mitzuwirken. Man denke nur an die chinesische Zusammenarbeit in der Nordkoreafrage, oder das chinesische Stillhalten zur Militäraktion in Libyen. Eine geringere Bedeutung des Wirtschaftswachstums in der Strategie der Regierung könnte auch hier Folgen haben.

Letztlich verbindet sich mit dieser Verflechtung von Wirtschaftswachstum und staatlichem Machterhalt aber auch ein Experiment mit ungewissem Ausgang: Kann ungezügelter Kapitalismus funktionieren in einem Land, in dem  ansonsten demokratische Freiheiten und Rechte des Einzelnen stark eingeschränkt werden? Es gibt Berichte, dass chinesische Behörden gegen Broker und Beteiligte am Börsenhandel vorgehen. Kann man also die Ideale des Westens von seinem Wirtschaftsprinzip trennen? Sollte der Stillstand oder gar Abschwung in China länger andauern, sähen sich diejenigen bestätigt, die diese Möglichkeit verneinen, und schon immer der Meinung waren, dass Kapitalismus zwangsläufig zu Demokratie führen müsse, oder eben nicht funktionieren könne. Anderseits hat die chinesische Regierung genau das versucht, nämlich sich in wirtschaftlichen Fragen am Westen zu orientieren, ohne die damit verbundenen Rechtsvorstellungen und politischen Normen mit zu übernehmen.

Damit wären wir dann bei der Frage angelangt, ob die Globalisierung nicht doch auf eine Erlösung im westlich-demokratischen Sinne abzielt, und damit nicht-westlichen Vorstellungen grundsätzlich zuwider läuft, bzw. diesen Traditionen schlicht nicht offen steht. Die chinesische Regierung führt letztlich ein Argument ins Feld, das ursprünglich von den europäischen Kolonialmächten verwendet wurde, um ihre Besitzansprüche moralisch zu rechtfertigen, nämlich dass westliche Werte wie ‚Freiheit‘ nicht mit den Traditionen und Umständen außerhalb des Westens  zu vereinbaren seien. Die Frage ist nur, ob die gegenwärtige Lage die Strategie der Regierung oder die Globalisierung als solche in Frage stellt. Ist es also nur ein chinesisches Problem, oder auch ein Problem unserer modernen Lebenswelt, die insgeheim immer noch annimmt, dass es außerhalb der westlichen Welt und Institutionen keine Freiheit geben kann?

Auch hier kann unsere Forschung am IKGF eine alternative Sichtweise anbieten, denn Freiheit im Zusammenhang mit der Fragestellung des Kollegs ist nicht die Freiheit demokratischer Institutionen, sondern die Freiheit des Menschen, trotz aller Zwänge und Vorhersagen sein eigenes Schicksal zu bestimmen. Der Freiheitsbegriff, der ja ansonsten so eng mit westlichen Institutionen und Rationalität verbunden ist, wird auf diese Weise von eben diesen gelöst, und damit zur allgemein menschlichen, nicht nur zur westlichen Freiheit, die damit auch in anderen Kulturen und zu anderen Zeiten vorstellbar ist.

Weitere Informationen:

Martin Kroher, PhD
Internationales Kolleg für Geisteswissenschaftliche Forschung (IKGF)‚ Schicksal, Freiheit und Prognose – Bewältigungsstrategien in Ostasien und Europa‘
Telefon: 09131/85-64325
martin.kroher@fau.de