Wie ist es um die Europäische Union derzeit bestellt?

Dr. Sebastian Büttner (Bild: FAU/Luisa Gerlitz)
Dr. Sebastian Büttner (Bild: FAU/Luisa Gerlitz)

Euro-Krise, Griechenland-Rettung und die europäische Flüchtlings- und Asylpolitik: Diese Themen halten die Politik und die Öffentlichkeit in Deutschland seit Monaten in Atem, und es offenbaren sich immer wieder große Unstimmigkeiten zwischen den Regierungen der EU-Mitgliedsländer. Am vergangenen Mittwoch hat der Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in seiner Rede zur Lage der Europäischen Union ein flammendes Plädoyer für mehr Solidarität in Europa gehalten. Der Erlanger Soziologe Sebastian Büttner geht der Frage nach, ob es in Europa insgesamt an Solidarität und europäischem Gemeinsinn mangelt. Wie ist es um die Europäische Union derzeit bestellt? Was hält die Europäische Union (noch) zusammen?

Dr. Sebastian Büttner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der FAU und forscht seit Jahren aus soziologischer Perspektive zu Themen der Europäischen Integration und der europäischen Vergesellschaftung. Er ist zudem Mitglied der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Forschergruppe „Horizontale Europäisierung“ (FOR 1539). Zusammen mit Prof. Dr. Steffen Mau (HU Berlin) leitet er ein Teilprojekt zur „Professionalisierung von EU-Expertise“ innerhalb dieser Forschergruppe.

Herr Dr. Büttner, wie beurteilen Sie die gegenwärtige Situation der Europäischen Union?

Die Europäische Union ist in politischer Hinsicht gegenwärtig in der Tat in keinem guten Zustand. Dies hat der aktuelle Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in seiner Rede zur Lage der Europäischen Union vom 9. September 2015 in bemerkenswerter Offenheit und Klarheit zum Ausdruck gebracht. Vielen Protagonisten der derzeitigen Europapolitik, vor allem den Politikern und Politikerinnen aus den Mitgliedsländern, mangelt es an einem Bekenntnis zu Europa. Bei vielen Themen fehlt eine Bereitschaft zu einer tiefgreifenden europäischen Zusammenarbeit. Stattdessen werden nationale Egoismen ins Feld geführt und in öffentlichen Reden überwiegend nationale Interessen betont – häufig auch in klarer Abgrenzung zu „Brüssel“ oder als dezidierter Gegenpol zur „EU“ oder zur „Kommission“.

Hinzu kommt, dass es der Europäischen Union in ihrem gegenwärtigen Zustand an Kohärenz, an institutioneller Stabilität, an politischer Schlagkraft und auch an der notwendigen Transparenz mangelt, um den Bürgern das Gefühl zu vermitteln, dass die europäische Ebene die richtige Adresse für die Bearbeitung und Lösung ihrer Angelegenheiten und der drängendsten Probleme der Zeit ist. Zu groß und zu heterogen erscheint die Union mit ihren mittlerweile 28 Mitgliedsländern; zu unübersichtlich, zu unverständlich, zu wenig nachvollziehbar wirken die üblichen Abläufe, Verfahren und Mechanismen der Europapolitik. Nicht zuletzt auch deswegen, weil es nach wie vor zu wenig Wissen über die Europäische Union in der Bevölkerung gibt und über „Europa“ seit Jahren eigentlich nur noch im Krisenmodus berichtet und diskutiert wird.

Wie zeigt sich dies zum Beispiel auch im Umgang mit der aktuellen Flüchtlingsproblematik?

Ich bin überzeugt, dass es bei vielen Themen – wie zum Beispiel gerade auch bei der Bewältigung der aktuellen Notlage von Flüchtlingen – eigentlich keine Alternative zu gemeinsamen europäischen Lösungen gibt. Oder anders formuliert: ein gut abgestimmtes und konzertiertes europäisches Handeln wäre für alle Beteiligten, für die betroffenen Mitgliedsländer wie für die Flüchtlinge, vorteilhafter als nationale Alleingänge und Kleinstaaterei. Denn die Flüchtlinge sind ja da, übrigens nicht erst seit gestern. Und sie lassen sich – wie man an den aktuellen Entwicklungen sehen kann – auch nicht einfach an den EU-Außengrenzen stoppen oder in Auffanglager stecken, wenn sie ihre Situation dort für unerträglich oder als aussichtlos empfinden.

Dies wurde von den Politikern in Europa wohl unterschätzt. Zu lange hat man auch in Deutschland geglaubt und wohl vor allem auch gehofft, dass man die Flüchtlinge weitgehend aus dem Gebiet der Europäischen Union und aus dem eigenen Territorium fernhalten kann. Warnungen und Hilferufe von Ländern wie Italien und Griechenland wurden lange Zeit weitgehend ignoriert. Die jetzige Situation legt die Probleme der Überbetonung nationaler Eigeninteressen auf europäischer Ebene in aller Deutlichkeit offen. Bemerkenswert ist auch, dass die Flüchtlinge selbst die Europäische Union mitnichten als einen „einheitlichen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ wahrnehmen – wie es in der offiziellen Diktion der EU zum Binnenmarkt heißt. Sondern sie wollen ganz gezielt in ganz bestimmte Länder gelangen, weil die Unterschiede in der Asylpolitik, in der Behandlung von Notleidenden und natürlich auch hinsichtlich der wirtschaftlichen Perspektiven zwischen den EU-Ländern nach wie vor so eklatant groß sind.

In Umfragen wächst die Europaskepsis. Jean-Claude Juncker beklagte in seiner Rede einen Mangel an „Europa“ und einen Mangel an „Union“. Haben Sie einen Erklärungsansatz für diese von Juncker konstatierte Befindlichkeit?

Die wachsende Europaskepsis in vielen Ländern Europas ist ein großes Problem und eine zentrale Herausforderung der Europapolitik. Die Europäische Integration wurde in den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten intensiv vorangetrieben. Dies hat Europa stärker verändert, als es die meisten Bürger und auch viele Politiker bisher wahrhaben möchten oder begreifen können. Die EU ist von 12 Mitgliedsländern seit 1995 auf 28 Mitgliedsländer mit zum Teil sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklungsniveaus angewachsen. Gleichzeitig wurden mit der Einführung des Binnenmarkts (ab 1993), dem Abbau der Binnengrenzen (1995), der Einführung einer gemeinsamen Währung (ab 2002) und vielen weiteren Abkommen, Vereinbarungen getroffen, die weitreichende Auswirkungen auf den Charakter nationalstaatlichen Regierens und einen erheblichen gesamteuropäischen Koordinations- und Regelungsbedarf mit sich gebracht haben.

Wir befinden uns derzeit in Europa nach wie vor noch in einer Phase der Konsolidierung und der Verarbeitung der jüngsten Erweiterungsrunden und Integrationsschritte, die noch längst nicht abgeschlossen ist. Deshalb wird an vielen Punkten und bei vielen Themen immer wieder deutlich: die Europäische Union ist in ihrer aktuellen Zusammensetzung und institutionellen Struktur äußerst uneinheitlich und heterogen, also alles andere als eine „Union“ im wörtlichen Sinne. Und dies schürt natürlich auch Zweifel und Unverständnis auf Seiten der Bürger.

Denn es ist für viele Menschen schlichtweg nicht nachvollziehbar, warum es in der EU eine gemeinsame Währung geben soll, aber von 28 Mitgliedsländern faktisch bisher nur 19 Mitgliedsländer Teil der Euro-Zone sind und es sich gerade auch wirtschaftlich gut situierte EU-Mitgliedsländer wie Großbritannien, Dänemark oder Schweden erlauben können, nicht Teil der Währungsunion zu sein. Es ist für viele ebenso wenig nachvollziehbar, dass sich die EU-Staaten einerseits im Schengener Abkommen von 1995 auf den Abbau der innereuropäischen Grenzkontrollen einigen, dieses Abkommen dann wiederum von Großbritannien und anderen Ländern wie Irland, Zypern und anderen neuen EU-Mitgliedsländer nicht umgesetzt wird. Andere Staaten, wie die Nicht-EU-Mitgliedsländer Schweiz, Island und Norwegen sind jedoch Teil des sogenannten „Schengen-Raums“.

Diese Auflistung von Unstimmigkeiten und Ungereimtheiten im institutionellen Gefüge der heutigen Union ließe sich beliebig fortführen. Vor diesem Hintergrund ist es daher einerseits absolut verständlich, dass sich immer mehr Menschen die Frage stellen, wie tragfähig und wie durchsetzungsfähig die Europäische Union überhaupt ist, um die anstehenden Probleme anzugehen. Und vielleicht noch viel fundamentaler: Ist „Europa“ vielleicht sogar die Ursache für die Probleme? Diese Tendenz besteht natürlich umso mehr, je mehr die Menschen sich vergegenwärtigen, wie stark die Europäische Integration in den vergangenen Jahren von einem naiven marktliberalen Optimismus geprägt war, der im Zuge der Schaffung des Binnenmarkts und der Einführung mehr Wohlstand versprach, aber mögliche Kosten und Risiken dieser Projekte verschwieg oder nicht ernst genug nahm. Da wurde seitens der Politik und auch seitens der EU-Institutionen viel Vertrauen verspielt.

Müssen wir uns in Zukunft wieder auf eine stärkere Betonung des Nationalen und auf einen stärkeren Rückbau der Europäischen Integration einstellen?

Ich bin ganz klar der Ansicht, dass der Rückfall in den Nationalismus und nationale Abschottung keine Lösung für die anstehenden Probleme sind. Sie bieten meiner Ansicht nach auch keine attraktive Zukunftsvision für die weitere Entwicklung Europas. Insofern gilt es zunächst einmal, das zu würdigen und zu pflegen, was bisher erreicht wurde, und jenes zu hinterfragen und nach Möglichkeit zu verändern, was es zu verbessern gilt. Das muss jedoch nicht immer gleichbedeutend sein mit mehr „Einheitlichkeit“ und mehr „Europa“.

Mehr Einheitlichkeit und mehr Homogenität sind keine Garanten für eine effektivere Politik und tragfähige Problemlösungen. Auch mehr europäischer Zentralismus ist kein Allheilmittel. Vielmehr geht es in der Europapolitik immer wieder darum, einen Interessenausgleich und einen Kompromiss zwischen unterschiedlichen (nationalen) Interessen zu finden und in eine gemeinsame europäische Lösung zu überführen, die für alle Parteien weitgehend akzeptabel und deshalb auch bindend ist. Europa und nationale Interessen stehen auch gar nicht immer so stark im Gegensatz, wie es häufig auf der Oberfläche der politischen Auseinandersetzung und der medialen Berichterstattung erscheint. Europäisierung ist kein Nullsummen-Spiel, das unweigerlich auf ein Mehr an Europa unter Preisgabe von nationaler Autonomie hinausläuft und umgekehrt. Dies hat nicht zuletzt auch der kürzlich verstorbene Soziologe Ulrich Beck in seinen europasoziologischen Schriften stets betont.

Ist die Europäische Union in ihrem Fortbestehen gefährdet?

Ich bin nicht der Ansicht, dass bei jeder politischen Auseinandersetzung auf europäischer Ebene immer gleich die Zukunft der Europäischen Union auf dem Spiel steht, wie es in der medialen Berichterstattung über europäische Krisensitzungen häufig suggeriert wird. Die Union ist viel stabiler als man landläufig glaubt. Und die Betonung von nationalen Interessen und die öffentliche Inszenierung von Gegensätzen ist das alltägliche Geschäft der Politik, in dem immer auch um die Durchsetzung von Partikularinteressen, um Ausnahmen und um Sonderregelungen gerungen wird. Nehmen Sie die Bundesrepublik zum Vergleich: Der Föderalismus in Deutschland lebt ja gerade davon, dass die Bundesländer unterschiedliche Maßstäbe und Standards für sich in Anspruch nehmen. Diese werden teils lautstark geäußert und sind nicht selten auch gegen die Linie der Bundesregierung und die Interessen anderer Bundesländer gerichtet. In diesem Sinne wird häufig für die Umsetzung oder Nicht-Umsetzung von bestimmten politischen Maßnahmen geworben.

Ähnliches spielt sich auch auf europäischer Ebene in der Auseinandersetzung und in der Zusammenarbeit zwischen den EU-Mitgliedsländern sowie zwischen EU-Institutionen und den Mitgliedsländern ab – mit nur einem gravierenden Unterschied: die Europäische Union ist kein föderaler Staat. Und sie wird es in absehbarer Zeit auch nicht sein – jedenfalls wenn man die aktuelle politische Stimmung und die öffentliche Meinung als Maßstab nimmt. Dies muss zunächst einmal in seiner vollen Konsequenz begriffen werden. Denn daraus erklären sich meiner Ansicht nach viele Probleme, Problemwahrnehmungen, Dilemmata der aktuellen Europapolitik.

Wie würden Sie die Europäische Union beschreiben?

Die Europäische Union ist derzeit zu wenig „Bundesstaat“, um tatsächlich eine „Union“ zu sein, und die Länder Europas sind heute bereits zu stark miteinander verflochten, um nur als ein Verbund aus souveränen Einzelstaaten gelten zu können, in dem jede Vereinbarung je nach Interessenlage von relativ autonomen Regierungen getroffen und auch wieder gebrochen werden können. Die Vertreter und Vertreterinnen der Mitgliedsstaaten vermitteln gegenüber ihrer nationalen und regionalen Wählerschaft leider immer noch allzu oft den Eindruck, dass sie ein Höchstmaß an nationaler Autonomie bewahren und die „nationalen“ Interessen gegenüber „europäischen“ Interessen durchsetzen können. So normal und nachvollziehbar diese Praxis der öffentlichen Inszenierung von politischer Potenz und Handlungsfähigkeit auch ist, sie zerstört Vertrauen in den Nutzen und in die Effektivität europäischer Vereinbarungen und europäischer Politik.

Was schlagen Sie zur Lösung dieses Problem vor? Braucht es – wie EU-Kommissionspräsident Juncker gefordert hat – wieder mehr europäische Solidarität?

Solidarität ist eine sehr wichtige und eine sehr hilfreiche Grundhaltung, auf deren Basis Offenheit und Vertrauen für Zusammenarbeit gedeihen kann. Solidarität ist sicherlich eine wichtige Grundhaltung für ein vernünftiges und gelingendes soziales Miteinander. Solidarität ist aber auch ein großer und inflationär gebrauchter politischer Begriff, der zumeist dann ins Feld geführt wird, wenn es darum geht, Empathie und Hilfsbereitschaft zu wecken und Menschen dazu zu bewegen, etwas zu tun oder zu empfinden, was nicht ihren unmittelbaren Wünschen und Empfindungen entspricht. Ich bin mir daher etwas unsicher, ob es tatsächlich ausreicht, an die Solidarität der Menschen und der Politiker in Europa zu appellieren.

Als Grundlage für das langfristige Funktionieren eines politischen Gemeinwesens muss Solidarität nämlich immer transformiert werden in stabile Institutionen, tragfähige Konfliktrahmen und Ausgleichsmechanismen, die nicht einfach nur vom guten Willen oder der schwankenden Haltung einzelner politischer Akteure und Bevölkerungsgruppen abhängig sind. Nur dann kann Solidarität langfristig aufrechterhalten werden. Wenn erst an die Solidarität und an die Bereitschaft zur Zusammenarbeit appelliert werden muss, ist die Grundlage für eine langfriste Kooperation (noch) nicht gegeben.

Ich würde daher vorschlagen, anstatt auf ein so hehres Ziel wie Solidarität hinzuarbeiten, zunächst noch stärker an der Verbesserung der bestehenden Institutionen, Entscheidungsverfahren und Ausgleichsmechanismen weiterzuarbeiten.

Die Hauptfrage sollte dabei immer sein, wie Entscheidungsstrukturen in Europa gebaut werden müssen, dass die übliche politische Betonung nationaler Egoismen und vertrauensschädigende gegenseitige Schuldzuweisungen nicht den Zusammenhalt der Mitgliedsländer gefährden und somit den Weg zu echten Kompromissen und Problemlösungen versperren. Und dies beinhaltet auch die Frage, wie die Machtverteilung zwischen den Ländern am sinnvollsten erfolgen kann, ohne dass „große“ Länder wie Deutschland oder Frankreich stets den Ton angeben und den anderen Ländern eigentlich nur die Wahl zwischen Gefolgschaft oder Totalopposition bleibt.

Des Weiteren brauchen wir meiner Ansicht nach in Deutschland und Europa jenseits aller aufgeregten Krisendiskurse und hektischen Diskussionen um Notfallprogramme dringend wieder eine offenere und eine lebhaftere Debatte darüber, wo wir mit „Europa“ beziehungsweise mit der Europäischen Union hinsteuern möchten. Dazu gehört natürlich auch die Frage, welche materiellen, institutionellen und politischen Ressourcen die Institutionen der Europäischen Union in Zukunft haben sollen.

Die Europäische Integration wurde in den vergangen Jahrzehnten zu lange hinter verschlossenen Türen und aus der Logik der Notwendigkeit vorangetrieben. Diese Tendenz wird sich angesichts der kontinuierlichen Krisendebatten und Notfallprogramme nicht verändern. Deshalb ist eine grundsätzliche Debatte weit über die aktuellen Krisendiskurse hinaus umso notwendiger.