Rituale für die Oberschicht

Mittelalterliche Handschriften ohne die schützende Buchkassette. (Bild: FAU/Gisela Gläser)
Mittelalterliche Handschriften ohne die schützende Buchkassette. (Bild: FAU/Gisela Gläser)

FAU-Forscher untersucht bisher unbekannte Sammlung bedeutender magischer Handschriften

Die Zukunft weissagen, Engel und Dämonen beschwören, Talismane, Wünschelruten und Zauberspiegel erschaffen: Magische Rituale waren während der Epoche der Frühen Neuzeit Teil des Wissensschatzes der gebildeten gesellschaftlichen Schichten. Prof. Dr. Daniel Bellingradt, Juniorprofessor für Buchwissenschaft insbesondere Historische Kommunikationsforschung an der FAU, hat gemeinsam mit Dr. Bernd-Christian Otto vom Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt eine Sammlung von 140 ritualmagischen Handschriften aus dem frühen 18. Jahrhundert untersucht, die sich bisher wissenschaftlich unentdeckt im Bestand der Universitätsbibliothek Leipzig befunden hatte.

Alte Traditionen, die kein Allgemeinwissen sind

Die 140 auf Deutsch, Italienisch und Latein verfassten Handschriften, angefertigt um das Jahr 1700, beinhalten Abschriften, Neuzusammenstellungen und Übersetzungen magischer Texte. Die Vorlagen und Quellen dieser Handschriften gehen auf ägyptische, griechische, römische sowie jüdisch-christliche und islamische Traditionen zurück. Bei den Texten handelt es sich zumeist um Ritualskripte, also Anweisungen für und Beschreibungen von Ritualen. So manches Ritual soll dann auch nicht nur Blicke in die eigene Zukunft ermöglichen, sondern unsichtbar machen oder den Verzauberten sogar fliegen lassen.

Ein Verbot führt zur Wiederauffindung

Die Sammlung enthält damit vornehmlichen in herrschaftsnahen Oberschichtsmilieus weiter vererbtes Geheimwissen. Denn trotz vielfacher Verbote und Zensurmaßnahmen besaßen magische Praktiken in der Zeit nach 1500 eine gewisse Anziehungskraft vor allem auf gelehrte und elitäre Kreise. Diese versuchten die Grenzen zwischen Magie, Religion und Wissenschaft im Geheimen immer wieder neu zu ziehen. „Die Geschichte dieser Sammlung gewährt Einblicke in eine Zeit und Welt, die man wohl auch als „dark enlightment“ oder Untergrundgeschichte der Aufklärung bezeichnen kann“, sagt Daniel Bellingradt.

Um die von umständlich geschriebenen und von langen Passagen gekennzeichneten Texte zu verstehen, musste der Leser hochgebildet sein. Außerdem dauerten die beschriebenen Rituale relativ lange, waren teuer und setzten breitgefächerte Kenntnis europäisch-religiöser Traditionen voraus. Alles Voraussetzungen, auf die wohl nur gelehrte gesellschaftliche Eliten zugreifen konnten. Jene Schichten also, die seit Mitte des 13. Jahrhunderts antikes Wissen wiederentdeckten, darunter eben auch antike Magietexte. Und das Interesse an solchem Wissen blieb auch mit der Renaissance und danach erhalten.

Als Folge des Verbots Magie zu wirken – um 1700 galt in Leipzig noch die Constitutio Criminalis Carolina von 1532 –  und allgemeiner Zensur verbreitete sich solch gefährliches Wissen zumeist über den Untergrund, über geheime Gelehrtenzirkel und durch Klöster. Dort tradierte sich dieses Wissen mittels anonymer handgeschriebener Unikate oder durch mündliche Weitergabe. Der Buchdruck spielte dabei eine eher untergeordnete Rolle. Jedenfalls lohnte sich der Handel mit solchen Werken. „Durch diesen Fund konnten wir auch einen Einblick in den sogenannten Geheimbuchhandel erhalten“, sagt Bellingradt. „Es zeigte sich, dass dies ein besonders lukrativer Markt für die Händler war.“ Zum Zeitpunkt, als die 140 Handschriften entstanden, besaßen diese zusammen den Wert von zwei bis drei bürgerlichen Stadthäusern in Leipzig. Ein Schatz von immensem Wert.

Diesen Schatz konnten Bellingradt und sein Kollege Dr. Bernd-Christian Otto von der Universität Erfurt jetzt heben. Erste Hinweise auf die Sammlung hatte Bellingradt schon einige Jahre zuvor bekommen, als er in Dresden zwischen Zensurakten einen von der kursächsischen Bücherkommission verbotenen Buchhandelskatalog aus dem Jahr 1714 fand. Dort waren 140 verbotene Handschriften aufgelistet. Einige Zeit später konnte sein Kollege die im Katalog beschriebene Sammlung in der Universitätsbibliothek Leipzig identifizieren. Die magischen Texte hatten dort nahezu unbeschädigt die Jahrhunderte überdauert. Die Ergebnisse ihrer Untersuchung veröffentlichen sie jetzt in einem Buch unter dem Titel „Magical Manuscripts in Early Modern Europe. The Clandestine Trade in Illegal Book Collections.“

Weitere Informationen:

Prof. Dr. Daniel Bellingradt
Tel.: 09131/85-24708
daniel.bellingradt@fau.de