Die Schule als Ort von Liberalität und Emanzipation

Peter Bubmann
Prof. Dr. Peter Bubmann, Professur für Praktische Theologie (Religions- und Gemeindepädagogik). (Bild: Florian Höhne)

Prof. Dr. Peter Bubmann über die neue Richtlinie zur Sexualerziehung in Bayern

Was müssen Kinder und Jugendliche über Sex wissen? Die Meinungen darüber gehen weit auseinander. Doch Fakt ist: Sex ist überall ein Thema. Und Heranwachsende haben dazu Fragen. Wie Lehrerinnen und Lehrer in Bayern darauf antworten können, hat der Freistaat in Richtlinien zur Familien- und Sexualerziehung festgeschrieben, die Ende vergangenen Jahres neu gefasst wurden. Prof. Dr. Peter Bubmann, Professor für Praktische Theologie an der FAU, zieht eine erste Bilanz.

Vor knapp einem Jahr sind nach langen und kontroversen Diskussionen neue Richtlinien zur Familien- und Sexualerziehung in Kraft getreten. Was hat sich damit konkret geändert?

Die Wahrnehmung der Diversität an Lebensformen und Formen geschlechtlicher Identität sowie sexueller Orientierung hat sich in diesem Dokument deutlich erhöht. Auch sind jetzt neue Herausforderungen für den verantwortlichen Umgang mit Sexualität durch die Inflation verfügbarer pornographischer Bilder im Internet angesprochen. Und auch die Sensibilisierung für den Umgang mit sexueller Gewalt bildet zu Recht einen wichtigen Schwerpunkt. Mit all dem haben die neuen Richtlinien einen deutlichen Sprung nach vorne hin zu einer zeitgemäßen sexualpädagogisch verantworteten Bildung im Bereich der Familien- und Sexualerziehung gemacht.

Von welchen Erfahrungen mit den neuen Richtlinien berichten die Lehrer?

Vielerorts gibt es eine Scheu bei den Lehrenden, die heißen Eisen wie Transidentität, Transsexualität oder Homosexualität anzusprechen. Es fehlt noch an qualifiziertem Unterrichtsmaterial. Darauf reagiert unsere Fortbildungstagung an der FAU, die genau zu solchen Themen Workshops und Materialien anbietet.

Wie nehmen Schüler die „neuen“ Themen wie Geschlechterrollen und Geschlechtsidentität, sexuelle Gewalt sowie Umgang mit sexualisierten Medieninhalten auf? Wie reagieren die Eltern?

Deutlich ist anhand neuerer empirischer Studien, dass es leider eine Vielzahl von negativen Diskriminierungserfahrungen von homosexuellen, transsexuellen oder bisexuellen Schülerinnen und Schülern bis hin zu Mobbing mit Selbstmordfolge im Bereich der Schulen gibt. Das fordert unmittelbar zum pädagogischen Handeln auf. Daneben ist die Vielfalt an medialen Darstellungen von familiären Lebensformen und Sexualität eine Herausforderung für die Orientierungsprozesse junger Menschen. Da fehlt es einerseits an sexualpädagogisch qualifizierter Aufklärung, zum anderen aber auch am Raum und der Zeit, ethische Maßstäbe zu entwickeln und zu überprüfen.

Eltern wie Lehrenden ist es allerdings wichtig, dass die Kinder und Jugendlichen ethische Orientierung auf dem Feld sexueller Identität und Orientierung sowie im Blick auf das Familienleben erhalten. Das fordern die Richtlinien zu Recht ein. Eine Minderheit der Eltern hat dabei die Sorge, dass bereits die Thematisierung der gesellschaftlich vorhandenen Diversität an Lebensformen und gelebter Sexualität zur Verwirrung ihrer Kinder beitrage und wollen diesen Bereich der Erziehung allein den Eltern vorbehalten. Das kollidiert jedoch klar mit dem Recht auf (natürlich altersgemäß angemessene) sexuelle Bildung junger Menschen. Die Schule dient nicht einfach nur dazu, die Sozialisation der Herkunftsfamilie zu bestätigen, sie muss auch selbstbestimmte Bildungsprozesse ermöglichen, die sich unter Umständen dann sogar gegen die Wertvorstellungen der Eltern richten können. Das betrifft etwa reaktionär-patriarchale Rollenvorstellungen für Mädchen und junge Frauen. Die neuen Richtlinien spiegeln hier einen gesellschaftlich erreichten Stand der Emanzipation und der Liberalität, hinter den zurückzufallen pädagogisch verantwortungslos wäre.

Über Sexualität zu sprechen, ist nicht immer einfach. Welche Ratschläge geben Sie Lehrerinnen und Lehrern an die Hand, zum Beispiel wenn diese mit Schülern mit sehr unterschiedlichem Vorwissen und verschiedenen kulturellen Hintergründen über Sexualität ins Gespräch kommen wollen?

Das Thema rückt vielen Schülerinnen und Schüler persönlich sehr nahe, auch wenn sie eigentlich brennend daran interessiert sind. Das kann Abwehr erzeugen – manchmal auch aus religiösen Gründen oder einem kulturellen Hintergrund, dem die offene Thematisierung von Sexualität fremd ist. Deshalb macht es Sinn, die sexualpädagogischen Fragen an Beispielen zu thematisieren, die den Schülerinnen und Schülern noch die Möglichkeit der Distanz lassen. Der Schulraum ist kein Selbsterfahrungsworkshop. Niemand soll gedrängt werden, sich irgendwie zu „outen“, oder zu irgendwelchen sexuellen Praktiken verleitet werden. Es geht um Bildungsprozesse, die auch reflexive Distanz benötigen. Spielerische Herangehensweisen mit Rollenspielen etwa zu verschiedenen Familiensituationen oder zur Erfahrung des Anderssein können dabei helfen. Der Streit zwischen verschiedenen Positionen in der Klasse – etwa zu Fragen der Rolle der Frau oder von Treue und Promiskuität – soll sachlich ausgetragen werden. Wo allerdings Personen in ihrer Würde durch verbale Entgleisungen oder andere Formen der Diskriminierung verletzt werden, ist es notwendig, dass Lehrende sich klar zum diskriminierungsfreien Umgang in der Klasse bekennen und für die Betroffenen eintreten. Insbesondere wo es um Formen sexueller Gewalt geht, sind die roten Linien deutlich zu benennen und Verstöße im Schulbereich klar zu sanktionieren und pädagogisch aufzuarbeiten.

Mit der Öffnung des Unterrichtes für neue Themenfelder decken die Schulen in Sachen Sexualerziehung ein weites Feld ab. Welche Rolle sehen Sie nun bei den Eltern?

Die Rolle der Eltern bleibt wichtig und ist ja auch in den Richtlinien geregelt. Das aktuelle familiäre Umfeld bildet einen entscheidenden Sozialisationshintergrund für alle schulischen Bildungsanstrengungen. Im besten Fall unterstützen die Erziehungsberechtigten aktiv größere schulische Projekte zur Sexualpädagogik, fragen bei ihren Kindern interessiert nach und lassen ihnen zugleich auch Freiräume, das in der Schule erworbene Wissen innerlich zu verarbeiten. Sie unterstützten die schulischen Bildungsanstrengungen für eine diskriminierungsfreie und tolerante Lebenswelt und ermutigen ihrerseits ihre Kinder zur je altersgemäßen verantwortungsvollen Gestaltung der eigenen Sexualität (was etwa auch die Fragen von Verhütung wie des Schutzes des ungeborenen Lebens mit umfasst). Als aufmerksame Begleiter der Bildungsprozesse ihrer Kinder diskutieren sie mit ihnen über Wertorientierungen in den Bereichen Familienformen und Sexualität und respektieren zugleich deren je eigene individuelle Entwicklungen.

Die bayerische Richtlinie für Familien- und Sexualerziehung ist Thema einer Fortbildung der FAU für Lehrer und alle anderen, die sich mit Sexualerziehung beschäftigen, am 13. Oktober in Erlangen.

Kontakt:

Prof. Dr. Peter Bubmann
Tel.: 09131/85-22222
peter.bubmann@fau.de