Mehrsprachigkeit als Normalzustand?

Portrait Prof. Dr. Silke Jansen
Prof. Dr. Silke Jansen vom Lehrstuhl für Romanistik, insbesondere Sprachwissenschaften. (Bild: FAU/Georg Pöhlein)

Prof. Dr. Silke Jansen über Mehrsprachigkeit in unserer Gesellschaft

Mehr Sprachen gleich mehr Chancen? Zum Thema Mehrsprachigkeit gibt es verschiedene Ansichten, die sich im Laufe der Geschichte auch änderten. Prof. Dr. Silke Jansen vom Lehrstuhl für Romanistik, insbesondere Sprachwissenschaften, der FAU beleuchtet in einem Interview den Stellenwert von Mehrsprachigkeit in Wissenschaft und Gesellschaft.

Mehrsprachigkeit wird heute meistens als Vorteil gesehen. Sollten daher Kinder schon im Vorschulalter Fremdsprachen lernen?

Es stimmt, dass Kinder in unserem Bildungssystem immer früher mit Fremdsprachen in Kontakt kommen. Befürworter des frühen Fremdsprachenlernens verweisen darauf, dass junge Menschen und insbesondere Kinder bessere Sprachenlerner seien als Erwachsene. Prinzipiell ist das richtig: Menschen, die im Erwachsenenalter eine neue Sprache lernen, behalten meistens zumindest einen Akzent und bleiben oft auch in Grammatik und Wortschatz hinter Muttersprachlern zurück. Wenn man mit einer Sprache aufwächst, lernt man sie dagegen perfekt. Um von diesem Effekt voll profitieren zu können, muss das Sprachenlernen aber unter ähnlichen Bedingungen erfolgen wie beim Muttersprachenerwerb. Die Kinder müssten die Fremdsprache also einige Stunden am Tag in natürlichen Kommunikationssituationen mit einer engen Bezugsperson verwenden, die diese Sprache auch gut beherrscht. Es reicht nicht, wenn sich Kinder ein- bis zweimal wöchentlich eine Stunde spielerisch zum Beispiel mit dem Englischen beschäftigen. Der Vorsprung, den Kinder aus diesen Programmen mitbringen, schmilzt in der Schule schnell dahin.

Doch Erwachsene haben auch Vorteile beim Fremdsprachenlernen: Sie lernen Sprachen zwar in der Regel nicht mehr perfekt, machen aber viel schnellere Fortschritte als Kinder, weil sie über mehr und differenziertere Strategien für das Lernen verfügen und nicht gleichzeitig noch Entwicklungsaufgaben zu bewältigen haben.

Heute werden mehrsprachige Menschen in der Regel beneidet. Warum wurde Mehrsprachigkeit früher oft als Problem betrachtet?

Viele Menschen in Europa glauben, dass Einsprachigkeit der Normalzustand für Individuen und Gesellschaften ist. Diese Ansicht gründet sich auf die Idee der Kulturnation, nach der gemeinsame  Traditionen und insbesondere eine gemeinsame Sprache die Basis für das Zusammenleben in einem Staat bilden. Man sieht dies aktuell auch in Katalonien, wo die Existenz einer eigenen Sprache als zentrales Argument für die Unabhängigkeit von Spanien genannt wird. Der Zusammenhang, der zwischen Sprache, Nation und Identität gesehen wird, machte und macht mehrsprachige Menschen oft verdächtig: Wohin gehören sie eigentlich? Mit welcher Sprachgemeinschaft fühlen sie sich solidarisch? Diese Form des Argwohns schlug – um nur ein historisches Beispiel zu nennen – zweisprachigen Bewohnern des Elsass und Lothringens im Zweiten Weltkrieg entgegen, und zwar sowohl von deutscher als auch von französischer Seite. Auch in den aktuellen Debatten über Migration und Integration ist der Gedanke, dass Menschen eine fest umrissene, an eine einzige Sprache gebundene Identität haben (sollten), präsent.

Vor diesem Hintergrund haben auch Sprachwissenschaftler und Pädagogen bis circa Mitte des 20. Jahrhunderts vor negativen Folgen des Aufwachsens mit mehreren Sprachen gewarnt. Sie befürchteten unter anderem Defizite im Bereich der Intelligenz, psychische Störungen oder sogar einen Verfall von Moral und Anstand. Heute wissen wir, dass Mehrsprachigkeit nicht schädlich ist, weder kognitiv noch emotional oder gesellschaftlich. Wie in früheren Zeiten verwenden auch heute die meisten Menschen auf der Welt in ihrem Alltag problemlos mehrere Sprachen, und viele wachsen mit mehr als einer Sprache auf. Die Fähigkeit zur Mehrsprachigkeit scheint also zum Menschsein dazuzugehören.

Übrigens stimmt es nicht, dass mehrsprachige Menschen heute grundsätzlich beneidet werden: Positiv besetzt ist vor allem die Mehrsprachigkeit mit prestigeträchtigen Sprachen wie Englisch oder Französisch. Spricht jemand neben der Nationalsprache noch eine Minderheiten- oder Migrantensprache, wird dies in der Gesellschaft weiterhin eher als Problem oder Risikofaktor wahrgenommen.

Studien scheinen darauf hin zu deuten, dass Mehrsprachige intellektuell leistungsfähiger und sozial kompetenter sind als Einsprachige. Sind sie also bessere Menschen?

In der Tat hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Umdenken unter Wissenschaftlern und Entscheidungsträgern stattgefunden. Mehrsprachigkeit wurde positiver bewertet und als Ressource für das Individuum und die Gesellschaft behandelt. Man sieht das sehr deutlich an der Sprachpolitik der Europäischen Union, die Mehrsprachigkeit ganz massiv befürwortet und fördert. Ab den Neunziger Jahren wurden immer mehr qualitative und quantitative Studien publiziert, die Zweisprachigen höhere kognitive Fähigkeiten, größere soziale Kompetenzen, ja sogar eine bessere Gesundheit attestieren. Ob es diesen so genannten „bilingual advantage“ wirklich gibt, ist fraglich: Viele dieser Untersuchungen arbeiten mit sehr kleinen Informantengruppen, und die wenigen großangelegten Studien aus jüngerer Zeit konnten die Vorteile von Mehrsprachigen nicht oder nur sehr eingeschränkt bestätigen.

In einem aktuellen Forschungsprojekt, das von der Volkswagen Stiftung gefördert wird, untersuche ich gemeinsam mit meiner Mitarbeiterin Sonja Higuera del Moral und der Bacherlorabsolventin Pia Reimann, wie diese widersprüchlichen Ergebnisse zustande kommen: Ist hier vielleicht eine unbewusste Verzerrung am Werk, weil Mehrsprachigkeit heutzutage „in“ ist? Dazu sehen wir uns zum Beispiel an, wie die Hypothesen der Studien formuliert sind, oder mit welchen Informantengruppen und Sprachenpaaren gearbeitet wird. Außerdem recherchieren wir die Rahmenbedingungen, unter denen diese Art der Forschung stattfindet: Wer hat sie zum Beispiel finanziert? Interessieren sich vielleicht insbesondere solche Wissenschaftler für diese Fragen, die selber mehrere Sprachen sprechen? Gerade weil wir die Mehrsprachigkeit als einen ganz normalen Zustand ansehen, der in der Natur des Menschen liegt und für einen Großteil der Menschheit alltägliche Realität ist, gehen wir im Moment nicht davon aus, dass die Mehrsprachigkeit an sich eine leistungssteigernde oder gesundheitsfördernde Wirkung hat. Gesellschaftlich gesehen sind Mehrsprachige natürlich trotzdem klar im Vorteil – ganz einfach durch ihre größeren Kommunikations- und Erfahrungsmöglichkeiten.

Weitere Informationen:

Prof. Dr. Silke Jansen
Tel.: 09131/85-29366
silke.jansen@fau.de