Irren wir uns empor?

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Erfolgreiches Scheitern ist ein wichtiger Teil des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses. (Bild: Colourbox.de)

Von Dr. Michael Jungert

Im historischen Rückblick erscheint die Entwicklung der Wissenschaft zuweilen als mehr oder weniger lineare Erfolgsgeschichte. Sieht man jedoch genauer hin, so spielen Scheitern, Irrtum und Zufall eine nicht unerhebliche Rolle. Der britische Philosoph und Mathematiker Bertrand Russell (1872-1970) erkannte im Scheitern gar einen elementaren Wesenszug der Wissenschaft: „Darin besteht das Wesen der Wissenschaft. Zuerst denkt man an etwas, das wahr sein könnte. Dann sieht man nach, ob es der Fall ist, und im Allgemeinen ist es nicht der Fall.“ Russells Feststellung deckt sich mit den Erfahrungen, die viele Wissenschaftler im Arbeitsalltag machen. Experiment und Theoriebildung führen häufig nicht oder nur auf Umwegen zum wissenschaftlichen Erfolg. Obgleich das Scheitern demnach fester Bestandteil des Wissenschaftlerlebens ist, wird es nur selten thematisiert. Gescheiterte Experimente können in der Regel nicht publiziert werden, erfolglose Argumente oder Theorien verschwinden zumeist, ohne dass die Wissenschaftsgemeinde davon erfährt. Gegenwärtig mehren sich jedoch die Stimmen, die eine umfassende Fehlerkultur für den Wissenschaftsbetrieb fordern. Hinter diesen Forderungen steht zum einen die Einsicht, dass Fehler und Irrtümer aus der wissenschaftlichen Praxis schlicht nicht wegzudenken sind und ihr Verschweigen zu einem Zerrbild von Wissenschaft führt. Zum anderen geraten mehr und mehr auch die Funktionen in den Blick, die Fehler und Scheitern zu wichtigen und konstitutiven Elementen auf dem Weg zu wissenschaftlichem Erkenntnisgewinn machen. Vier dieser Funktionen sollen in den Blick genommen werden.

Verwerfen

Scheitern wissenschaftliche Ansätze, Theorien oder Experimente, kann dies dazu führen, dass sie verworfen werden. Im Idealfall wird Wissenschaft dadurch entlastet: Gescheiterte Ansätze oder Experimente werden an die Wissenschaftler eines Fachs kommuniziert, wodurch verhindert wird, dass andernorts noch einmal Zeit und Ressourcen dafür aufgebracht werden. Dies setzt freilich voraus, dass es sich wirklich um gescheiterte Ansätze oder Experimente handelt und nicht um solche, bei denen beispielsweise eine schlechte Durchführung, Fehler in der logischen Struktur oder das Ignorieren von bedeutsamen Rahmenbedingungen zum Misserfolg geführt haben. Denn in solchen Fällen kann durch Nachbesserung aus dem zunächst gescheiterten Ansatz später eventuell ein erfolgreicher werden.

Verbessern

Theorien, Experimente oder Erklärungen können auch nur vorläufig scheitern. Widmen sich die betroffenen Wissenschaftler oder deren Fachkollegen den vermeintlich gescheiterten Ansätzen erneut und analysieren sie die Strukturen und Gründe des Scheiterns, so können sich daraus wertvolle Erkenntnisse ergeben, die zur Verfeinerung, Modifizierung oder erfolgreichen Wiederholung führen. Dem Scheitern kommt hier eine erkenntnisleitende Funktion zu, indem die wissenschaftliche Neugier und der Forscherdialog sozusagen zur Reparatur von Ansätzen genutzt werden. Häufig zeigt sich, dass der ursprüngliche Versuch oder der erste Theorie-Entwurf nur in einer bestimmten Hinsicht fehlerhaft waren: Ein Datensatz kann ungenau analysiert worden, ein Experiment an Nachlässigkeiten im Design gescheitert oder ein Argument durch seine unsaubere Ausarbeitung fehlgegangen sein. All das bedeutet jedoch nicht, dass die jeweiligen Ansätze grundsätzlich falsch sind und keinen Wert für die Wissenschaft besitzen. Vielmehr kann der richtige Umgang mit zunächst erfolglosen wissenschaftlichen Arbeiten im zweiten Anlauf zu wichtigen Erkenntnisfortschritten führen.

Junger Wissenschaftler mit dampfender tasse und einer Menge mathematischer Formeln
Der richtige Umgang mit zunächst erfolglosen wissenschaftlichen Arbeiten kann im zweiten Anlauf zu wichtigen Erkenntnisfortschritten führen. (Bild: Colourbox.de)

Variieren

Wenn Theorien, Argumente oder Experimente in bestimmten Kontexten scheitern, können sie in anderen dennoch von großem Wert sein. Für Forscher aus verwandten oder entfernten Gebieten können gescheiterte Ansätze eine wertvolle Inspiration liefern, wenn sie dadurch auf Methoden, Daten oder theoretische Annahmen aufmerksam gemacht werden, die sich im Kontext ihrer Disziplin als gewinnbringend herausstellen. Das im ursprünglichen Rahmen erfolglose Unternehmen kann so in einem anderen Bereich zum Erkenntnisfortschritt beitragen.

Verteidigen

Die vierte mögliche Funktion unterscheidet sich stark von den vorangegangen. Hier geht es nicht um tatsächliches Scheitern, sondern um vermeintliches. Ein Beispiel sind Fehleinschätzungen Dritter, die eigentlich erfolgreiche Ansätze nicht als solche (an-)erkennen und diese fälschlich als Fälle gescheiterter Wissenschaft einstufen. Im besten Fall motivieren solche Fehleinschätzungen die betroffenen Wissenschaftler, ihre Projekte auch gegen Widerstände zu verteidigen und für ihre Anerkennung durch die Wissenschaftsgemeinde zu kämpfen. Ein berühmtes Beispiel aus der Wissenschaftsgeschichte sind die Forschungsergebnisse zu den Ursachen des Kindbettfiebers von Ignaz Philipp Semmelweis (1818-1865). Semmelweis stellte als erster einen kausalen Zusammenhang zwischen hygienischen Missständen im Krankenhaus und dem Auftreten des Kindbettfiebers her, den er durch systematische Studien untermauern konnte. Zwar gelang es ihm, auf der Grundlage seiner Hypothese die Sterblichkeitsrate von Müttern in seiner Geburtenabteilung signifikant zu senken. Da seine Annahmen und sein methodisches Vorgehen jedoch im Widerspruch zu den damals etablierten Krankheitstheorien standen und die meisten seiner Kollegen sich gegen Semmelweis wandten, blieb seiner Theorie der Durchbruch zunächst verwehrt. Aus Sicht vieler Zeitgenossen war Semmelweis trotz seiner aus heutiger Sicht bahnbrechenden Erkenntnis gescheitert, weil sich sein Ansatz nicht mit dem damaligen Wissensstand vertrug, den zu revidieren nur wenige Ärzte bereit waren. Semmelweis verteidigte, von nur wenigen Kollegen unterstützt, vehement seine Theorie, die sich aber erst eine Ärztegeneration später und weit nach seinem Tod durchsetzte. Sein beharrliches Verteidigen der eigenen Theorie darf als Paradebeispiel für den wissenschaftlichen Kampf gegen kollektive Fehleinschätzung gelten.

Zeitschrift für besseres Scheitern

Vor dem Hintergrund dieser Typologie stellt sich die Frage, wie der Umgang mit Fehlern und Scheitern in der Wissenschaft verbessert werden kann, um das Potenzial der genannten Funktionen noch stärker auszuschöpfen. Wichtig ist dabei, erfolglose Theorien und Experimente sichtbar zu machen, um wiederholtes Scheitern zu vermeiden und durch das Aufdecken seiner Gründe die Basis für ein verbessertes Vorgehen zu schaffen. Mit dem „Journal of Unsolved Questions“ (JUnQ) existiert seit wenigen Jahren eine Zeitschrift, die gescheiterte Ansätze publiziert und sie so für einen breiteren wissenschaftlichen Diskurs öffnet. Darüber hinaus ist es wichtig, im Anreizsystem der Wissenschaft auch Spielräume für das Scheitern zu schaffen.

Wissenschaft ist ein hochgradig dynamischer Prozess, weniger eine Aneinanderreihung fixer Ergebnisse.

Die gegenwärtig starke Fokussierung auf vorzeigbare Erfolge in Form möglichst hochrangiger Publikationen hat diese Möglichkeiten stark eingeschränkt, sodass produktives Scheitern, das wichtige Lernen aus Misserfolgen und das Modifizieren und Verbessern von zunächst gescheiterten Projekten oft verhindert oder zumindest nicht gefördert werden. Um die Rahmenbedingungen für gutes Scheitern zu verbessern, ist die Einsicht in den Prozesscharakter von Wissenschaft zentral. Durch den hohen Stellenwert vermeintlich fertiger Produkte der Wissenschaft, die in Form von Veröffentlichungen archiviert werden, wird verdeckt, dass wissenschaftliche Erkenntnisgewinnung primär ein hochgradig dynamischer Prozess und weniger eine Aneinanderreihung fixer Ergebnisse ist. Resultate werden vorgestellt, überprüft, bestätigt, verworfen oder angepasst. All dies geschieht über teils lange Zeiträume und im Austausch zwischen Wissenschaftlern aus einer Vielzahl von Ländern, Disziplinen und Wissenschaftssystemen. Gelingt dieses Zusammenspiel von Versuch, Irrtum, Eingeständnis und Verbesserung, so entsteht dadurch eine zentrale Grundlage für den Fortschritt der Wissenschaft. Oder wie Samuel Beckett, freilich nicht speziell auf die Wissenschaft bezogen, schrieb: „Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better.“ Zu Deutsch: „Immer versucht. Immer gescheitert. Einerlei. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.“


Zum Autor

Michael Jungert ist seit 2015 Geschäftsführer des Zentralinstituts für Wissenschaftsreflexion und Schlüsselqualifikationen der FAU (ZiWiS). Sein Interesse als Forscher gilt der Wissenschaftsphilosophie, der Philosophie des Geistes und der Psychologie sowie der Angewandten Ethik und Metaethik.


Der friedrich – das Forschungsmagazin der FAU

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Dieser Artikel erschien zuerst in unserem Forschungsmagazin friedrich. Die aktuelle Ausgabe wirft einen Blick zurück in die 275-jährige Geschichte der Universität. Darüber hinaus beschäftigen es sich mit Fragen, die die Wissenschaft hier und heute bewegen: Was macht gute Wissenschaft aus? Muss Wissenschaft nützen? Wann ist Scheitern erfolgreich? Die Jubiläumsausgabe wagt aber auch einen Blick in die Zukunft. Denn obwohl wir heutzutage so viel mehr wissen als noch vor 200 Jahren, existieren immer noch jede Menge offener Fragen, auf die es Antworten zu finden gilt.

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