Wo ist das Ende der Welt?

Klippe, von der Papierversionen historische Persönlichkeiten ins Meer stürzen
Wo ist das Ende der Welt? Dieser Frage gingen bereits viele Persönlichkeiten nach. (Montage: Foto: shutterstock.com/Geolili; Illustrationen: shutterstock.com/KUGO)

Ende Gelände

Immer wieder standen – und stehen auch heute noch – Menschen vor dem Ende der ihnen bekannten Welt. Daran gehindert, trotzdem weiterzugehen, hat es sie nie.

von Dr. Bernd Flessner

Ein Galeriewald markiert das Ende einer und den Anfang einer neuen, anderen Welt. Das kann ein Fluss oder auch eine Graslandschaft sein, etwa eine Savanne in Afrika. Galeriewälder waren auch der Lebensraum des Australopithecus, einer Gattung von Frühmenschen, die vor rund 3,6 Millionen Jahren evolutionär auf die Bipedie setzte. Nur so war es ihr möglich, nicht nur auf Bäumen zu leben, sondern auch in der Savanne, der unbekannten neuen Welt, in der Laufen wichtiger war als Klettern. Der Wald ist nicht genug, hätte das Motto lauten können. Ein kleiner Schritt für einen Frühmenschen, aber ein großer Schritt für die im Entstehen begriffene Menschheit.

Über die Ursachen für die Eroberung der Savannenwelt wird weiterhin diskutiert. Doch ganz egal, ob Klimawandel, Ökologie oder soziale Faktoren als Agentia dominierten, viel spricht dafür, dass auch die Neugier beteiligt war. Mit ihr im geistigen Gepäck erkundete und erwanderte der Homo erectus ganz Afrika und überließ die Bäume seinen hominiden Verwandten. So erreichte er, tierischer Beute und einem besseren Leben auf der Spur, vor rund 1,5 Millionen Jahren erneut ein Ende der Welt: die Küsten des afrikanischen Kontinents. Ende Gelände? Mitnichten. Denn das Ausloten anderer Welten, das Erkunden des Unbekannten, das Eingehen von Risiken war längst im Wesen der frühen Menschen fest verankert. Bevorzugt entlang den Küsten und über Landbrücken wanderten namenlose Entdecker zunächst nach Ostasien und Australien, dann nach Europa.

Neue Kontinente

Der Nachfahre des Homo erectus, der Homo sapiens, erkundete seinerseits Afrika, Asien, Australien und Europa, bevor er vor ungefähr 15.000 Jahren ein noch unbekanntes Land entdeckte. Beringia war von der Eiszeit geschaffen worden, die den Meeresspiegel derart abgesenkt hatte, dass zwischen Asien und Nordamerika eine eisfreie und bewohnbare Landschaft entstehen konnte. Sie wurde besiedelt und erwies sich als Zugang zu gleich zwei Kontinenten. Tausend Jahre nach dem Beginn der Einwanderung erreichten die ersten Siedler Feuerland. Zu Fuß, aber auch in Booten entlang der Küste.
Ende Gelände? Nur vorläufig.

Denn zum letzten unbesiedelten Kontinent, Antarktika, fehlte eine temporäre Landbrücke. Diese benötigten die späteren, sekundären Entdecker nicht, da sie sich mit hochseetauglichen Schiffen von Landwegen emanzipierten. Der Isländer Leif Eriksson erreichte um das Jahr 1000 nach Christus die Ostküste Nordamerikas, ohne zu wissen, einen Kontinent vor sich zu haben, ohne zu wissen, nicht der Erste zu sein. Hingegen war ihm bewusst, eine kugelförmige Erde zu bereisen. Eine flache Erdscheibe als Bestandteil des mittelalterlichen Weltbildes ist purer Mythos. Diese Vorstellung wurde zwar noch von Homer vor rund 2700 Jahren hochgehalten, fiel aber 100 Jahre später den Erkenntnissen vorsokratischer Denker, darunter auch Pythagoras, zum Opfer.

Im 3. Jahrhundert vor Christus hat schließlich Eratosthenes von Kyrene, Leiter der berühmten Bibliothek von Alexandria, den Umfang der Erdkugel berechnet und 252.000 Stadien als Resultat präsentiert, was 41.750 Kilometern entspricht und lediglich 1675 Kilometer über dem tatsächlichen Erdumfang liegt. Eratosthenes‘ Zeitgenosse Aristarchos von Samos, ein Anhänger des heliozentrischen Weltbilds, gab sogar eine passable Schätzung über die Entfernung zwischen Erde und Mond ab. Er war nicht der einzige Grieche, der im Erdtrabanten ein Ebenbild der Erde sah und somit das Ende des Geländes gleich in eine andere Sphäre externalisierte.

Reise zum Mond?

Zunächst ließen sich die neuen Welten außerhalb der irdischen nur fiktional erkunden. So ließ der Grieche Lukian von Samosata in seiner um 150 entstandenen Satire Wahre Geschichten eine Schiffsbesatzung zunächst das lange Zeit geltende Weltende passieren, die Säulen des Herakles, also die Straße von Gibraltar. Jenseits der alten Grenze wird das Schiff von einem Sturm in den Himmel und dann bis zum Mond getragen, der sich tatsächlich als erdähnlich erweist. Gemeinsam mit wahrhaft exotischen Seleniten nehmen die Griechen an ebenso exotischen Weltraumschlachten teil, bevor sie zur Erde zurückkehren. Die von Aristoteles als Überlistung der Natur beschriebene Technik ist indes astronomisch weit davon entfernt, eine Reise zum Mond zu ermöglichen.

Im Spätmittelalter folgten sekundäre, wenn nicht gar tertiäre Entdecker, allen voran Christoph Kolumbus, der sich vor allem von pekuniären Motiven leiten ließ. Wie sein Vorgänger Leif Eriksson wurde ihm nie bewusst, einen den Europäern unbekannten Kontinent betreten zu haben. Seine Nachfolger sahen sich als primäre Entdecker und somit als Herren über das neue Gelände und dessen Bewohner, die enteignet, entrechtet, vertrieben und dezimiert wurden.

Ferdinand Magellan und Sir Francis Drake verifizierten im 16. Jahrhundert durch ihre Weltumseglungen endgültig die Kugelgestalt der Erde, deren Aufteilung nun die Politik der Europäer nachhaltig prägte. Schließlich ging es um Geländegewinne, die generell Gewinne bedeuteten. Geländegewinne, die Erkenntnisgewinne zur Folge hatten, folgten später. Alexander von Humboldt suchte im 19. Jahrhundert nach Wissen über das Gelände, nicht nach materieller Beute. Ende Gelände? Mitnichten. Zumindest für Erkenntnisgewinne.

Dem russischen Offizier Fabian Gottlieb von Bellingshausen wird von Historikern zugeschrieben, im Januar 1820 als erster Mensch Antarktika gesichtet zu haben. Der letzte Kontinent, ein erneuter Geländegewinn, auch wenn das unberührte Gelände für die bekannten Kolonialisierungsmaßnahmen ungeeignet war. Bei den nachfolgenden Entdeckungsreisen dominierte der Prestigegewinn, den Roald Amundsen für sich verbuchen konnte, als er am 14. Dezember 1911 den Südpol erreichte.

Unter dem Meer

Die Vermessung der Erde war damit zwar nicht abgeschlossen, der geografische Rahmen jedoch endgültig abgesteckt. Ende Gelände? Noch immer nicht, denn das submarine Gelände ist auch heute noch weitgehend Neuland und wartet auf seine Erforschung. Dafür geriet im 20. Jahrhundert das Gelände selbst in den Fokus, genauer gesagt, dessen Qualität. Trotz der Küstenlinien der Kontinente, die hier und da wie Puzzleteile zusammenpassen, wurden die Erdteile lange Zeit als autochthon und statisch angesehen. Die „Fixismus“ genannte Theorie ließ allenfalls in den Ozeanen versunkene Landbrücken zu.

Im selben Jahr, in dem Amundsen den Südpol erreichte, begann der Polarforscher Alfred Wegener, seine Theorie der Plattentektonik zu entwickeln. Doch erst nach dem Zweiten Weltkrieg konnte der Fixismus als fixe Idee dekuvriert werden. Der Heraklit zugeschriebene Aphorismus „panta rhei“ galt nun auch für das Gelände, dessen Ende darin bestehen konnte, unter einer tektonischen Platte im Erdmantel zu versinken, geologisch „Subduktion“ genannt.

Am 21. Juli 1969 um 3:56 Uhr MEZ gelang dann jene Überlistung der Natur, die Lukian von Samosata satirisch beschrieben hatte. Neil Armstrong betrat als erster Mensch den Mond, ein längst anvisiertes Ziel menschlicher Neugier. Die nächsten Ziele haben unbemannte Sonden bereits erkundet, insbesondere den Mars, dessen Gelände bereits vermessen wird. Aber auch andere Objekte des Sonnensystems stehen auf der Wunschliste für bemannte Exkursionen, die durchaus im Möglichkeitsraum positioniert sind. Ende Gelände? Sollte man meinen, denn Lichtjahre entfernte Exoplaneten sind ebenso unerreichbar wie zu Lukians Zeiten der Mond. Unmöglich. Science-Fiction. Hier endet die von Aristoteles benannte Überlistung. Dennoch werden Menschen sich nicht von der Idee abbringen lassen, eines fernen Tages eine geeignete List ersinnen zu können, um auch das exoplanetarische Gelände zu betreten. n

 


Der friedrich – das Forschungsmagazin der FAU

friedrich 2018 Titelbild
Beim Klick aufs Bild öffnet sich das PDF.

Dieser Artikel erschien zuerst in unserem Forschungsmagazin friedrich. Die aktuelle Ausgabe beschäftigt sich mit dem Thema Ende in all seinen Formen: Welche davon sind unausweichlich? Wie setzen sich Menschen damit auseinander? Und was bedeuten sie für den einzelnen? Und ist das, was Menschen als Ende definieren wirklich der Schlusspunkt? Manchmal verändern sich Dinge nur, entwickeln sich weiter, es entsteht etwas Neues. Mitunter ist das Ende aber auch gar kein Thema: Der Mensch strebt nach Unendlichkeit. Können wir diesen Begriff überhaupt verstehen? Ist Innovation unendlich? Und leben wir unendlich weiter – im Internet?

friedrich 118 herunterladen

Weitere Beiträge aus dem Magazin finden Sie unter dem Stichwort „friedrich“.