Gesellschaftsspiele

Spielfeld mit zwei Basketballern und zwei Lacrosse-Spielerinnen
Nebeneinander statt miteinander: Wie Teams verschiedener Sportarten in einem Spielfeld spielen auch Parallelgesellschaften nach unterschiedlichen Regeln. (Bild: Uwe Niklas)

Sie agieren im Verborgenen, abseits des gesellschaftlichen Mainstreams: Parallelgesellschaften. Ob arabische Großfamilien oder extreme Gruppierungen von links oder rechts – sie bedrohen unser Gemeinwesen.

von Michael Kniess

Der spektakuläre Goldmünzen-Raub im März 2017 aus dem Berliner Bodemuseum sorgte weltweit für Aufsehen. Als mutmaßliche Haupttäter müssen sich Mitglieder einer einschlägig bekannten, arabischstämmigen Berliner Großfamilie vor Gericht verantworten. Auch den Überfall auf ein internationales Pokerturnier am Potsdamer Platz in Berlin 2010 hatte ein Mann aus einer stadtbekannten Palästinenser-Familie zu verantworten.

Von subtiler Bedrohung über offene Aggressivität bis hin zu Raubüberfällen und Drogenhandel: Die Machenschaften krimineller Clan-Mitglieder sind seit Jahren ein Problem. Im Verborgenen, abseits des sozialen Mainstreams, agieren sie als Parallelgesellschaft ohne Respekt gegenüber der hiesigen Rechtsordnung und staatlichen Institutionen.

Derlei kriminelle Machenschaften von Großfamilien mit kurdischem, libanesischem oder palästinensischem Hintergrund waren unter anderem Anlass für Prof. Dr. Mathias Rohe, sich wissenschaftlich in einer Studie mit arabischen Communitys Berlins unterschiedlicher ethnischer Herkunft und deren geschlossenen Familienstrukturen zu befassen. Der Direktor des Erlanger Zentrums für Islamisches Recht in Europa (EZIRE) an der FAU und sein Team führten für die bis dato aufwendigste Studie zu diesem Thema 93 ausführliche Interviews mit Personen aus arabischen Migranten-Gemeinden. Befragt wurden auch Vertreter muslimischer Organisationen, Nicht-Regierungs-Organisationen und Berliner Behörden.

„Die Menschen haben diese Mechanismen aus ihren Herkunftsländern, wo es keinen funktionierenden Staat gab oder der Staat sogar der Feind war, hierher übertragen.“

Im Fokus stand das Thema „Paralleljustiz“, also die außerhalb von Gerichten erfolgende Streitbeilegung, bei der deutsche Rechtsstandards missachtet, unterlaufen oder konterkariert werden. „Das Problem dabei besteht nicht darin, dass Menschen versuchen, ihre Konflikte auch außerhalb der Schranken des Gerichts zu lösen“, betont Professor Rohe. „Strafrechtlich relevant sind vielmehr die Versuche, aussagewillige Opfer oder Zeugen und Zeuginnen zu bedrohen, die Rücknahme von Strafanzeigen zu erzwingen oder sogar Angehörige von Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichten anzugreifen.“

Was fehlt, ist das Vertrauen in das deutsche Recht. Rohe ist überzeugt, dass mehr über dieses aufgeklärt werden müsse. Der Rechts- und Islamwissenschaftler unterstreicht: „Die Menschen haben diese Mechanismen aus ihren Herkunftsländern, wo es keinen funktionierenden Staat gab oder der Staat sogar der Feind war, hierher übertragen. Zum Teil haben sie keine Kenntnis davon, wie unsere staatlichen Institutionen arbeiten.“ So gebe es bei vielen etwa die Befürchtung, dass Jugendämter vorschnell Kinder aus Familien herausreißen würden. Hinzu komme das Vorherrschen einer Scham- anstelle einer im deutschen Recht verankerten Schuldkultur. „Wir erwarten, dass jemand seinen Fehler eingesteht. In anderen Kulturen hingegen bedeutet es einen Gesichtsverlust, öffentlich zu einem Fehler zu stehen. Also wird versucht, den Konflikt intern zu lösen.“

Brückenbauer aktivieren

Basketballer und Lacrosse-Spielerin Rücken an Rücken
Wenn Menschen nicht nach den gleichen Regeln spielen, wird ein Zusammenspiel schwierig. (Bild: Uwe Niklas)

Die Religiosität spielt für Rohe bei alledem nur eine untergeordnete Rolle: „Ich halte nichts von einer abstrakten Diskussion über Normen und Werte sowie vorschnellen Antworten, die diese kriminellen Aktivitäten mit dem Islam in Verbindung bringen. Unsere Forschungen haben gezeigt, dass es sich dabei um eine Fehldiagnose handelt, die sehr problematisch ist, weil dadurch eine Bevölkerungsgruppe schuldlos unter Generalverdacht gestellt wird.“ Dem Mitbegründer der Gesellschaft für Arabisches und Islamisches Recht geht es vielmehr um die konkrete Fragestellung, wo Menschen die Rechtsordnung nicht als unerlässliche gemeinsame Grundlage des friedlichen Zusammenlebens respektieren. „Es ist wahr, dass die Angehörigen dieser Familienclans zum Teil muslimischen Glaubens sind. Wir haben ähnliche Strukturen aber auch bei christlichen Albanern.“

Entscheidend für das Entstehen solcher Parallelgesellschaften sind nach Auffassung Rohes, der an der FAU den Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung innehat, stattdessen die soziokulturellen Ursachen als Folge fehlender Integrationsbemühungen in den vergangenen Jahrzehnten. „Im Wesentlichen handelt es sich dabei um Familien, die während der siebziger und achtziger Jahre in der ersten Generation als Flüchtlinge aus dem Libanon oder Palästina nach Deutschland gekommen sind. Schon in ihren Herkunftsstaaten wollte man diese Menschen nicht haben, und auch hier hat man ihnen dasselbe vermittelt und zu verstehen gegeben, dass man sich besser nur auf sich selbst verlässt. Jahrelang galt für die Kinder solcher Familien keine Schulpflicht. Sie hatten damit keinen realistischen Zugang zur Bildung und zum Arbeitsmarkt.”

Die daraus resultierende Solidaritätsstruktur innerhalb der Familie ist für Rohe auch einer der Ansatzpunkte, wenn es um das Verhindern solcher Subkulturen geht: „Wir müssen vor allem auch an die Frauen in den Clans heran, denn sie sind es, die ihre Söhne in dem Geiste erziehen, dass die Familie alles, der Rest nichts ist. Zusätzlich wird es gelingen müssen, Brückenbauer aus den Großfamilien zu aktivieren, die selbst auf der Seite des Rechtsstaates stehen.“ Professor Rohe empfiehlt zudem „eine niederschwellige Präsenz des Staates“. Mit regelmäßigen Verkehrskontrollen, einer konsequenten Überwachung der Schulpflicht oder dem direkten Ahnden von Respektlosigkeiten gegenüber Polizeikräften solle den Clan-Mitgliedern konstant Druck gemacht werden – verbunden mit Angeboten für diejenigen, die aussteigen wollen.

“Wir müssen vor allem auch an die Frauen in den Clans heran, denn sie sind es, die ihre Söhne in dem Geiste erziehen, dass die Familie alles, der Rest nichts ist.”

Seine Expertise bringt der EZIRE-Gründungsdirektor unter anderem auch in eine gemeinsame Forschungsarbeit zur Prävention mit der Polizeihochschule Berlin, dem Bundeskriminalamt und mehreren Landeskriminalämtern ein. Gerade im Sozialbereich könne man durch Zugang zu Gesellschaft, Bildung und Wertesystemen noch mehr tun. Rohe betont: „Letztendlich geht es um eine Fülle von einzelnen Maßnahmen, sicherlich auch im repressiven Bereich. Der Staat darf nicht den Fehler machen, sich aus dem öffentlichen Raum zurückzuziehen, wie in Berlin großflächig geschehen, indem Tausende Polizeistellen eingespart wurden.“ Sein Fazit: „Wenn es darum geht, diese Strukturen wirkungsvoll einzudämmen, befinden wir uns auf einem Langstreckenlauf, gänzlich ausmerzen werden wir sie aber ohnehin nicht können.“

Übereinander statt miteinander reden

Dasselbe gilt für Extremismus von links und rechts, der einerseits gerade in die Mitte der Gesellschaft hineinwächst und andererseits an den jeweiligen Rändern eigene Parallelgesellschaften befördert. „Selbstverständlich speisen sich Links- und Rechtsextremismus aus unterschiedlichen Quellen, dennoch haben sie eine gemeinsame Ursache“, hebt Dr. Thorsten Winkelmann hervor. „Politischen Vorfeldorganisationen wie Kirchen und Gewerkschaften, die in der Vergangenheit viel zur Stärkung der Mitte beigetragen haben, fehlt es heute an Bindekräften.“ Hinzu kommen sich auflösende soziale Milieus und eine zunehmende Entwurzelung der Menschen. Die Gesellschaft zerfällt in Subgruppen, die große ideologische Erzählung funktioniert nicht mehr.

Basketball und Lacrosse-Schläger
(Bild: Uwe Niklas)

„Bei allen Chancen und Vorteilen, die mit der stets zunehmenden weltweiten Vernetzung und Ausdifferenzierung verbunden sind, ist die Welt für viele Menschen als Folge dieser Entwicklung doch auch immer unübersichtlicher geworden“, sagt der wissenschaftliche Mitarbeiter am Lehrstuhl für Deutsche und Vergleichende Politikwissenschaft, Europaforschung und Politische Ökonomie der FAU. Mit Zunahme der Modernisierung und Individualisierung vermehren sich persönliche Entscheidungsmöglichkeiten, jedoch auch Unsicherheit, Ungerechtigkeit und Unruhe. Ein Beispiel: Die heutige Berufswelt verlangt schier grenzenlose Mobilität und lässt dabei die eigene Heimat fremd werden oder gar abhandenkommen. Was bleibt, ist die Sehnsucht nach ihr. In einer Welt, die ihre Bewohner den Boden unter den Füßen verlieren lässt, ist der Heimatbegriff wieder willkommen.

„Dieser fehlende feste Halt führt dazu, dass rechtes Gedankengut gerade auch bei jungen Menschen wieder Anklang findet und rechtsextreme Einstellungen wieder salonfähig werden“, sagt Dr. Thorsten Winkelmann. In einer immer komplizierteren Welt liefert der Extremismus scheinbar einfache Lösung für komplexe Probleme. Er betont: „In szenetypischer Kleidung und Musik finden sie das Zugehörigkeitsgefühl, das sie vermissen. Das neue Kollektiv mit seinen eigenen Wertvorstellungen und Ansichten spendet Halt und Verlässlichkeit.“ Für den Politikwissenschaftler liegt darin die zentrale Ursache für den Aufstieg der Identitätspolitik.

„Wir brauchen eine Metaerzählung, die in einer zunehmend fragmentierten Gesellschaft wieder einen Gemeinschaftssinn weckt. Nur so kann der fortwährenden Aufspaltung Einhalt geboten werden.“

Doch auch am politisch linken Rand sieht Winkelmann eine ähnliche Entwicklung: „Beide Seiten sind sich in der Hinsicht möglicherweise näher, als sie behaupten würden. Auf der linken Seite wird ebenfalls das unmittelbare soziale Umfeld in Form einer gesteigerten Kiez-Mentalität zum Referenzpunkt.“ Während links gegen die Gentrifizierung der Städte und ihre Folgen mit fliegenden Steinen gekämpft wird und alle Probleme dieser Welt mit dem Neoliberalismus in Verbindung gebracht werden, wird rechts mit Brandanschlägen gegen die Zuwanderung aufbegehrt, in der eine existenzielle Bedrohung für die Heimat gesehen wird.

Gesellschaftliche Entwicklungen dienen dazu, Freund-Feind-Kategorien aufzumachen, zu zelebrieren und zu kultivieren. Die eigene Gruppe wird auf-, die anderen abgewertet. Aus der einen Gesellschaft werden die vielen Parallelgesellschaften. „Ein großes Problem besteht darin, dass nicht mehr miteinander, sondern vor allem übereinander geredet wird“, betont Winkelmann. „Insbesondere durch Social Media entstehen Echokammern, in denen man nur noch mit dem konfrontiert wird, was in das jeweils eigene Weltbild passt.“

Doch auch die Politik sieht er allen voran in der Pflicht: „Es ist an den großen Volksparteien, sich mit den Problemen, die Links- und Rechtsextreme ansprechen, auseinanderzusetzen. Gefragt sind konkrete Lösungsansätze anstelle bloßer Problembenennungen. Gefragt ist die Diskussion anstelle einer vorschnellen Stigmatisierung.“ Nicht nur die Debattenkultur fehlt Dr. Thorsten Winkelmann hierzulande. Sein Fazit: „Wir brauchen eine Metaerzählung, die in einer zunehmend fragmentierten Gesellschaft wieder einen Gemeinschaftssinn weckt. Nur so kann der fortwährenden Aufspaltung Einhalt geboten werden.“ Gefragt sind hierbei alle.

Über den Autor

Michael Kniess arbeitet nach seinem Studium der Politikwissenschaft und Soziologie an der FAU und nach Abschluss eines journalistischen Volontariats als freier Journalist und Autor. Er schreibt unter anderem für heute.de, die Welt am Sonntag und die Nürnberger Zeitung.


FAU-Forschungsmagazin friedrich

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