Tabula rasa

Das Wort Tabu in ein Papier geschnitten
(Bild: Thomas Riese)

Tabus gehören zu einer Gesellschaft dazu: Über manche Themen wollen oder sollen wir einfach nicht sprechen. Der Tabubruch gehört aber ebenfalls dazu. Immer versuchen Menschen dabei, gesellschaftliche Schmerzgrenzen auszuloten.

von Ilona Hörath

Die Lust am Ekel

Lang ist‘s her, das Golden Age of Horror, als der Werwolf, Dracula und Frankenstein im Hollywood der 1930er-Jahre die Leinwand bevölkerten. Und sehr effektiv Grenzüberschreitungen betrieben. „Die Bandbreite von Tabubrüchen im Horrorfilm ist groß“, sagt Dr. Peter Podrez vom Institut für Theater- und Medienwissenschaft. Er forscht zu „Horror in Film und Computerspiel“. „Horrorfilme spielen mit dem kulturell Tabuisierten, also allem, was die Zuschauenden mit ihren Ängsten konfrontiert und Ekel oder Abscheu hervorruft, etwa Tod, Verfall oder monströse Körper.“

Buchstabe "T" ausgeschnitten aus Papier
(Bild: Thomas Riese)

Das Subgenre der Splatterfilme geht in puncto Exzessivität noch weiter und zeigt ausgeweidete Körper oder deren Zerstückelung. „Im geschützten Raum des Films werden die Tabus thematisiert, die in unserer Gesellschaft kaum Platz finden“, sagt Podrez. Erlebbar im Kino oder auf der Couch zu Hause. „Der Horrorfilm will die Zuschauenden Angst-Lust oder Ekel-Lust als etwas erleben lassen, das positiv ist.“ Erlebtes, das nach dem Abspann zur Kommunikation aufruft: „Der Horrorfilm macht uns das Angebot, darüber nachzudenken, warum wir uns zum Beispiel vor etwas fürchten oder es als eklig empfinden.“

In den vergangenen Jahren hat sich, so Podrez, ein Mainstream-Horrorfilm herausgebildet, der sich großer Beliebtheit erfreut und nicht nur eine Nischenklientel erreicht, sondern ein breites Pu­blikum. Gezeigt werden unter anderem Grenz­überschreitungen in das Private.

Tummelten sich bis in die 1960er-Jahre vor allem Monster und Vampire auf Zelluloid, tauchen seitdem zunehmend Serienkiller und Psychopathinnen auf – die sich hinter der Maske des vermeintlich harmlosen Menschen von nebenan verstecken. „Das Böse kommt nicht mehr von außen, sondern ist in der Gesellschaft angelegt, etwa im netten Jungen oder Mädchen von nebenan.“ Und das Publikum fragt sich, wie weit man dem scheinbar Normalen trauen kann. Zusätzlich werde der Zusammenhang von Gewalt und Sexualität besonders sichtbar gemacht, so Podrez.

Neben der „Konfrontation mit individuell und kollektiv tabuisierten Phänomenen und Ängsten“ erfüllt der Horrorfilm weitere kulturelle Funktionen, etwa das Hinterfragen gesellschaftlicher Strukturen. Unterschiedlichste Kreaturen demontieren das gutbürgerliche Leben und zeigen, was geschieht, wenn Institutionen außer Kraft gesetzt sind. Kann der Normalzustand wiederhergestellt werden? Oder triumphiert das Böse, das im Horrorfilm mittlerweile auch den Weg über die sozialen Medien wählt? Es stellt sich auch hier die Vertrauensfrage.

Weil es uns (vermeintlich) nützt

Die Wellen schlugen hoch. 2002 entführte ein Jurastudent den elfjährigen Bankierssohn Jakob von Metzler und weigerte sich nach der Festnahme, den Aufenthaltsort des – wie sich später he­rausstellen sollte: bereits ermordeten – Kindes preiszugeben. Woraufhin der damalige Frankfurter Polizeivizepräsident dem Entführer androhte, diesem „Schmerzen zuzufügen, wie er sie noch nie erlebt habe“, sollte er weiterhin schweigen. „Die öffentliche Diskussion explodierte“, sagt Prof. Dr. Dr. Heiner Bielefeldt. Ist in Grenzfällen – wie dem Versuch, das Leben eines entführten Kindes zu retten – Folter nicht doch eine Option? Würde das Zufügen von Schmerzen nicht die Menschenwürde des Täters oder der Täterin verletzen, was einem Tabubruch gliche? Für Bielefeldt, Inhaber des Lehrstuhls für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik, steht außer Frage: „Das Folterverbot ist ein einschränkungsloses Verbot, es gilt auch für Krisensituationen und im Notstand, es ist nicht verrückbar. Den Begriff ‚Tabu‘ würde ich jedoch nicht anwenden. Denn es handelt sich um eine Menschenrechtsnorm, die in der Menschenwürde gründet.“

„Das Folterverbot ist ein einschränkungsloses Verbot, es gilt auch für Krisensituationen und im Notstand, es ist nicht verrückbar. Den Begriff ‚Tabu‘ würde ich jedoch nicht anwenden. “

Bielefeldt führt gute Gründe an, weshalb das Folterverbot unverbrüchlich gelten muss. „Folter ist die Vernichtung des freien Willens bei Aufrechterhaltung des vollen Bewusstseins“, erläutert der international anerkannte Menschenrechtsexperte. „Das Perfide der Folter besteht darin, dass der Mensch zum Zeugen seiner eigenen Verdinglichung wird.“ Die völkerrechtlich verbindliche Anti-Folter-Konvention der Vereinten Nationen von 1984 ergänzt dabei die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1984 sowie die Genfer Konvention von 1948. „Jeder Verdacht auf Folter muss strafrechtlich verfolgt werden“, erläutert Bielefeldt.

Buchstabe A aus Papier ausgeschnitten
(Bild: Thomas Riese)

Im Zuge der internationalen Terrorismusbekämpfung rückte zudem auch in Deutschland die Prävention stärker in den Mittelpunkt. „Folterprävention geschieht etwa dadurch, dass die Staaten auch ohne konkrete Verdachtsmomente unabhängige Kontrollen durchführen“ – gemäß einem 2002 verabschiedeten Zusatzprotokoll zur UN-Anti-Folter-Konvention. „Dies ist ein Erfolgsmodell“, berichtet Heiner Bielefeldt.

Die Debatte im Entführungsfall Metzler habe gezeigt, so Bielefeldt, „auf welch dünnem Eis man sich bewegt“. Der Konsens „Folter darf nicht sein“ wies auf einmal Risse auf, sagt der Wissenschaftler. „Doch in seiner inneren Plausibilität hat sich das Folterverbot noch einmal erhärtet.“ Die Diskussion habe sich in den vergangenen Jahren zwar wieder beruhigt. Dennoch fordert Bielefeldt: „Wir müssen stets am Konsens arbeiten. Wichtig sind Argumente“ – deshalb vermeidet er den Begriff ‚Tabu‘. „Risse machen wachsam, und diese Wachsamkeit brauchen wir.“

Schweigen aus Scham

Let’s talk about sex. Oder besser nicht? Wer sich über Sexualität informieren möchte und Aufklärung benötigt, kann zwar auf unzählige Quellen zurückgreifen. „Doch gleichzeitig wird immer weniger darüber gesprochen“, sagt Dr. Philipp Spitzer, Oberarzt am Lehrstuhl für Psychiatrie und Psychotherapie. Er weiß: 30 bis 50 Prozent aller Menschen entwickeln mindestens einmal im Leben eine sexuelle Funktionsstörung. Doch ob fehlendes sexuelles Verlangen oder Erektionsstörungen: Darüber spricht man nicht – mit niemandem. Zu groß ist die Angst vor Ausgrenzung und Stigmatisierung. Weil das Thema tabu ist, suchen sich viele Menschen keine Unterstützung. „Wer Hilfe bei sexuellen Störungen finden will, muss zunächst aktiv die Scham überwinden. Erst danach besteht die Chance, auch das Tabu, nicht darüber zu sprechen, zu überwinden.“

„Wir trainieren, wie man über ein Tabuthema kommuniziert, das im Praxisalltag oft zu kurz kommt. Das Seminar ist wichtig für die ärztliche Gesprächsführung.“

Zum Beispiel beim Hausarzt oder der Hausärztin. „Wir wissen, dass ein Großteil der Patientinnen und Patienten gerne mit dem Hausarzt oder der Hausärztin über Sexualität sprechen würde.“ Ein erster Schritt also, ein Tabu zu brechen? Doch auch auf ärztlicher Seite herrscht oft Zurückhaltung. Weshalb Spitzer sich entschlossen hat, das Tabu langsam zu brechen.

Um Medizinstudierende zu sensibilisieren und ihnen die Kompetenz zu vermitteln, später im Beruf Sexualanamnesen durchzuführen, bietet Spitzer dem ärztlichen Nachwuchs einmal pro Semester und in Zusammenarbeit mit der Schule für Krankenpflege das Wahlpflichtfach „Let’s talk about sex – Die Sexualanamnese praktisch lernen“ an. Dazu gehören Rollenspiele, in denen von der Flirtphase bis zur Zigarette danach der Ablauf von Sexualität thematisiert wird. „Wir trainieren, wie man über ein Tabuthema kommuniziert, das im Praxisalltag oft zu kurz kommt“, erläutert Spitzer. „Das Seminar ist wichtig für die ärztliche Gesprächsführung.“

Buchstabe B aus Papier ausgeschnitten
(Bild: Thomas Riese)

Damit beschreitet er neue Wege. Scham als eigenständiger Konflikt werde, so Spitzer, in der psychoanalytischen Forschung erst seit wenigen Jahrzehnten betrachtet. Im Gespräch mit dem Betroffenen gilt es, beim Sprechen über Scham aber auch vorsichtig zu sein. Scham sei „etwas ganz Ursprüngliches, etwas, das ein Stück weit die menschliche soziale Gemeinschaft zusammenhält, in der klare Regeln gelten, was erlaubt ist und was nicht.“ Die Scham zeigt an, wo diese Regeln verletzt werden.

Paarbeziehungen würden jedoch, so Spitzer, profitieren, wenn Sexualität weniger tabuisiert und Paare offener mit ihren Bedürfnissen und Wünschen umgehen würden. Philipp Spitzer sagt: „Es gibt einen nicht unbeträchtlichen Anteil an Paaren, bei denen sich sexuelle Probleme durch Gespräche in zwei, drei Sitzungen beheben lassen.“

Schreiben über das Unaussprechbare

Darf man das? Darf man über Kindheitserinnerungen als KZ-Häftling in Auschwitz und Buchenwald schreiben, wie es der spätere Literaturnobelpreisträger Imre Kertész in seinem „Roman eines Schicksallosen“ getan hat? Der Roman wurde von Verlegern zunächst vehement abgelehnt und erstmals 1975 herausgebracht. „Es wäre ein Tabubruch gewesen, den Roman zu veröffentlichen“, sagt Prof. Dr. Gerd Bayer vom Lehrstuhl für Anglistik, der auf Holocaustforschung über Literatur und Kino spezialisiert ist. „In den späten 1940er-Jahren bis in die 1960er-Jahre hinein gab es ein großes Desinteresse, über das Thema Holocaust zu sprechen und sich mit ihm literarisch auseinanderzusetzen.“

Buchstabe U aus Papier ausgeschnitten
(Bild: Thomas Riese)

Die Frage, wie der Holocaust in der Literatur, aber auch in allen anderen Gattungen dargestellt werden kann, hat Theodor Adorno mit dem „Verbot der Kunst nach Auschwitz“ beantwortet. Ob als Verdikt zu interpretieren oder als Diktum – sein Unsagbarkeitstopos ist berühmt geworden: „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch.“ Dennoch wurde Paul Celans 1948 veröffentlichtes Gedicht „Todesfuge“, das die nationalsozialistische Judenvernichtung thematisiert, nicht minder berühmt. Der wissenschaftliche Diskurs über die „Unsagbarkeit und Undarstellbarkeit der Schrecken der Judenvernichtung“, die Debatte darüber, ob der Holocaust überhaupt Thema für die Künste sein kann oder ob er nicht grundsätzlich ein Tabu sein muss, ist längst nicht beendet. „Das Fortbestehen von Tabugrenzen ist noch immer real“, sagt Bayer. Auch wenn Einzelfälle die Regel bestätigen, zum Beispiel der Spielfilm „Schindlers Liste“ von 1993. „Nach diesem Film stellte sich nicht mehr grundsätzlich die Frage, ob es mit dem Thema Holocaust eine sinnvolle Beschäftigung geben kann.“

Trotzdem: „Zentral ist, an welchem Punkt die Darstellung ausbeutend ist. Das wäre der Tabubruch“, sagt Bayer. Wo also geht die Form zum Beispiel über den breiten gesellschaftlichen Konsens hinaus? „Eine der Sorgen war es, dass ein Kunstwerk immer dazu dienen kann, den Rezipienten Spaß zu bereiten“, erklärt Gerd Bayer. Und was geschieht, wenn zunehmend NS-Täterinnen und -Täter die Hauptrolle einnehmen? Inwieweit ist es legitim, dem Publikum die dunkle Seite nahezubringen? Darf man Hitler als tierliebenden Menschen darstellen wie in dem Kinofilm „Der Untergang“ aus dem Jahr 2004?

Ein Wandel fand dennoch statt, wie Bayer weiß – beginnend mit Art Spiegelmans Comic „Maus. Die Geschichte eines Überlebenden“, für den der Cartoonist den Pulitzerpreis erhielt: „Die Erstrezeption in der Holocaustforschung gestaltete sich skeptisch, doch mittlerweile ist ,Maus‘ ein kanonischer Text.“ Sowohl im Comic wie auch im Cartoon oder in Graphic Novels ist das Sujet Holocaust „gang und gäbe“. „Hier stellt sich die Frage nach dem Tabu nicht mehr.“

Über die Autorin

Ilona Hörath studierte Theaterwissenschaften, Germanistik und Philosophie und lebt als Autorin und Journalistin in Erlangen. Seit mehr als 20 Jahren arbeitet sie für regionale und überregionale Publikums- und Fachmedien, darunter Bayerischer Rundfunk, Nürnberger Nachrichten, VDI nachrichten und Technology Review.


FAU-Forschungsmagazin friedrich

Cover FAU-Forschungsmagazin friedrich Nr. 119Dies ist ein Beitrag aus unserem Forschungsmagazin friedrich. Die aktuelle Ausgabe nimmt Sie mit auf eine Entdeckungsreise ins „Verborgene“: Sie schaut auf für unser Auge unsichtbare, oftmals von uns unbemerkte und vor uns versteckte Dinge. Sie wirft aber auch einen Blick dorthin, wo wir gar nicht hinsehen wollen: auf Tabus.

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