Wissen wir, was wir tun?

Illustration Steuerung des Gehirns
Motivationen treiben uns an, ohne dass wir uns ihrer bewusst sind: Warum verhalten wir uns, wie wir uns verhalten? (Bild: Wolfgang Irber)

Warum wir uns verhalten, wie wir uns verhalten

Motivationen treiben uns an, ohne dass wir uns ihrer bewusst sind; im Kleinkindalter erworbene Arten der Bindung charakterisieren unsere Verhaltensweisen: Warum wir uns verhalten, wie wir uns verhalten.

von Matthias Münch

Ende des 19. Jahrhunderts schuf der schottische Schriftsteller Robert Louis Stevenson das wohl berühmteste Doppelgängermotiv der Weltliteratur: In „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ verwandelt sich der gesellschaftlich angesehene, erfolgreiche und tugendhafte Arzt Dr. Henry Jekyll in den Furcht einflößenden, aufbrausenden und ungezügelten Edward Hyde, der am Ende sogar einen Mord begeht. In Hyde findet Jekyll ein Ventil, aus der ihm auferlegten Selbstbeschränkung auszubrechen und seinen verbotenen Trieben freien Lauf zu lassen. Die Auseinandersetzung Stevensons mit den Abgründen der menschlichen Seele und den Auffassungen der bürgerlichen Moral wird nicht selten als Vorwegnahme der von Sigmund Freud begründeten Psychoanalyse gewertet: Auch für Freud war das Unbewusste eine eher negative, bedrohliche Kraft, gesteuert von unseren angeborenen Trieben und Instinkten.

Ist das Unbewusste, das Verborgene also etwas per se Schlechtes, etwas Böses, das wir permanent im Zaum halten müssen? Die neuere psychologische Forschung malt ein weit weniger düsteres Bild: Wir brauchen das Unbewusste, um Komplexität zu reduzieren und schnell die richtigen Entscheidungen zu treffen. Stereotype erleichtern unseren Alltag, weil wir weniger Daten verarbeiten müssen, weil wir beispielsweise darauf angewiesen sind, binnen Sekunden einschätzen zu können, ob eine fremde Person eine Bedrohung für uns darstellt. Studien zeigen, dass das Bauchgefühl, unsere Intuition, dem analytischen Denken überlegen sein kann – vor allem, wenn wir wenig Informationen über einen Sachverhalt haben oder unter Zeitdruck stehen. Hinzu kommt, dass unser Hirn schlicht überfordert wäre, wollten wir jede Routinehandlung einer bewussten Kontrolle unterziehen.

Modell eines menschlichen Gehirns
Unser Hirn wäre überfordert, wollten wir jede Routinehandlung einer bewussten Kontrolle unterziehen. (Bild: Colourbox)

Was uns von Tieren unterscheidet

Was uns jedoch zu Menschen macht und uns von Tieren unterscheidet, ist unser Bewusstsein, die Fähigkeit, unser Verhalten gezielt zu steuern. Zentrales Instrument dafür ist die Sprache, mit der wir uns anderen mitteilen können. Nur durch die Sprache können wir uns über Konventionen und Werte verständigen und Ziele formulieren. Diese Fähigkeit zur Selbstregulation ermöglicht es uns, Konflikte gewaltfrei zu lösen, unser sexuelles Verlangen zu kontrollieren und eigene Interessen mit denen der Gemeinschaft in Einklang zu bringen. „Die unbewusste Verarbeitung von Informationen ist der Normalfall“, sagt Prof. Dr. Oliver Schultheiss, Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Psychologie II. „Unser Verhalten wird aber auch durch bewusste Wahrnehmung bestimmt.“

Motivationen sind uns oft verborgen

Schultheiss erforscht die physiologischen, kognitiven, affektiven und verhaltensbezogenen Aspekte der Motivation des Menschen und hat dafür das Human Motivation and Affective Neuroscience Lab (HuMAN) an der FAU gegründet. Hier werden vor allem implizite Motivationsprozesse untersucht – jene also, die unser Verhalten unbewusst beeinflussen. Drei grundlegende Motive unterscheidet die Wissenschaft bisher: das Bedürfnis nach Macht, nach Zugehörigkeit und nach Leistung. Individuen mit einem starken Machtmotiv haben Freude daran, andere zu beeinflussen und zu dominieren. Personen mit einem starken Zugehörigkeitsbedürfnis erleben einen engen, harmonischen Kontakt zu anderen Menschen als befriedigend, und Personen mit einem starken Leistungsmotiv bekommen einen Kick, wenn sie etwas gut machen oder eine Aufgabe lösen. „Wir gehen davon aus, dass diese Motive bestimmen, inwieweit das Erreichen von Anreizen und Zielen Freude bereitet – und umgekehrt das Nichterreichen frustriert“, erklärt Schultheiss. „Je stärker beispielsweise das Machtmotiv ist, desto höher ist der Belohnungswert, einen Gegner zu besiegen, und desto höher ist die Frustration, besiegt worden zu sein.“

Drei grundlegende Motive unterscheidet die Wissenschaft bisher: das Bedürfnis nach Macht, nach Zugehörigkeit und nach Leistung.

Falsche Selbsteinschätzung

Am HuMAN-Lab werden verschiedene Instrumente genutzt, um Motivationen zu erheben: Die Forscherinnen und Forscher messen den Hormonspiegel im Speichel emotional erregter Versuchspersonen und nutzen bildgebende Verfahren zur Darstellung von Gehirnaktivierungen. Eine wirksame Methode sind auch narrative Erhebungen: Dabei werden die Teilnehmenden gebeten, Geschichten zu vorgelegten Bildern zu erzählen. „Stellen Sie sich ein Bild vor, auf dem der Kapitän eines Schiffes sich mit einer anderen Person, möglicherweise einem Passagier, unterhält“, erzählt Oliver Schultheiss. „Die beiden könnten übers Wetter reden, der Kapitän könnte dem Passagier aber auch untersagen, das Schiff zu betreten. Aus der Interpretation solcher Situationen ziehen wir Rückschlüsse auf die impliziten Motivationen der Testpersonen.“

Interessanterweise, das zeigen Studien seit über 50 Jahren, stimmt die eigene Bewertung oft nicht mit den gemessenen impliziten Motiven überein. So schätzen sich Menschen trotz ausgeprägter unbewusster Machtmotivation häufig nicht als machtorientiert ein. Wenn wir jedoch Ziele verfolgen, die nicht mit unseren impliziten Motiven übereinstimmen – etwa wenn wir als zugehörigkeitsmotivierte Person dazu angehalten werden, mehr Durchsetzungsfähigkeit im Beruf zu zeigen –, kann es sein, dass wir trotz erreichter Erfolge keine Befriedigung erleben. Diese Diskrepanz kann zu einem verminderten emotionalen Wohlbefinden führen und sogar krank machen: Die Forschung im HuMAN-Lab hat gezeigt, dass Menschen, deren Ziele nicht motivkongruent sind, einen höheren Stresshormonspiegel haben und häufiger depressive Symptome ausbilden.

Die Kindheit prägt Bindungsverhalten

Die Psychologie beschäftigt jedoch nicht nur die Frage, welche unbewussten Motive und Instinkte unser Verhalten prägen, sondern auch, wie – beziehungsweise wann – sie entstehen. Die klassische psychoanalytische Entwicklungsforschung konzentriert sich dabei auf die frühen Lebensphasen des Menschen: Sie geht davon aus, dass der Grundstein unserer Psyche im Kindesalter gelegt wird, dass seelische Verletzungen und ein ungünstiges Milieu – geprägt von fehlender Zuwendung, Vernachlässigung, Strenge bis hin zu körperlicher Gewalt – pathologische Verhaltensstörungen im Erwachsenenalter verursachen können.

Puppe mit kaputter Kleidung liegt auf der Straße
Verletzungen unserer Psyche in der Kindheit können Verhaltensstörungen bei Erwachsenen verursachen. (Bild: Colourbox.de)

Zwar gilt Freuds Theorie der Ausbildung von Traumata und Zwangsneurosen im Kindesalter heute als überholt, doch auch die moderne Entwicklungsforschung konzentriert sich auf die frühe Lebensphase. Sie stützt sich vor allem auf die Theorie des britischen Psychiaters und Psychoanalytikers John Bowlby, der zufolge das Streben nach engen emotionalen Bindungen und das Bedürfnis nach Sicherheit unsere Persönlichkeit stärker prägen als der Sexualtrieb. „Bindungsmuster bilden sich bereits im ersten Lebensjahr aus“, sagt Prof. Dr. Gottfried Spangler, Inhaber des Lehrstuhls für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie. „Sie dienen der Emotionsregulation und haben großen Einfluss auf unsere sozialen Kompetenzen.“

Die Qualität der Bindung kann in der sogenannten „Fremden Situation“ ermittelt werden, die die Kanadierin Mary Ainsworth in den sechziger Jahren entwickelt hat: Dabei wird beobachtet, wie einjährige Kinder sich verhalten, wenn die Mutter aus dem Raum geht und sie allein mit einer fremden Person zurücklässt. Sicher gebundene Kinder sind meist traurig oder weinen, wenn sie von der Mutter getrennt werden, und lassen sich schnell trösten, wenn die Mutter zurückkehrt. Unsicher-vermeidende Kinder zeigen keine Trauer und ignorieren die Mutter, wenn sie den Raum wieder betritt. Unsicher-ambivalente Kinder sind sehr traurig über die Trennung, reagieren nach Rückkehr der Mutter abwechselnd wütend und kontaktsuchend. Schließlich gibt es noch die Gruppe der unsicher-desorganisierten Kinder – sie wirken bei Rückkehr der Mutter verstört oder erstarrt.

Weitergehende Untersuchungen zeigen einen starken Zusammenhang zwischen dem Verhalten der Hauptbezugspersonen und dem des Kindes: Sind die Eltern aufmerksam, feinfühlig, sensibel, hilfsbereit und Trost spendend, hat das Kind die besten Chancen, einen sicheren Bindungsstatus zu erlangen. Umgekehrt führen mangelnde Aufmerksamkeit und Feinfühligkeit gegenüber den Emotionen und Bedürfnissen des Kindes mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer unsicheren Bindung. „In unseren Tests stellen wir zum Beispiel fest, dass Eltern mit vermeidendem Bindungsstatus negative Emotionen ihrer Kinder, etwa Weinen oder Trotzreaktionen, ebenfalls negativ bewerten“, erzählt Gottfried Spangler.

Bindungsstatus ist veränderlich

Welche Folgen hat nun diese transgenerationale Tradierung, wie die Weitergabe von Bindungsmustern genannt wird? Sicher gebundene Kinder, das wurde in zahlreichen Studien nachgewiesen, zeigen ein adäquates Sozialverhalten, und sie können sich besser und länger auf eine Aufgabe konzentrieren. Sie entwickeln ein höheres Selbstwertgefühl und weniger Depressionen als Kinder mit unsicherem Bindungsstatus. Im Erwachsenenalter sind sie besser in der Lage, die Emotionen anderer und auch eigene Emotionen adäquat wahrzunehmen und sie zur Bewältigung belastender Situationen zu nutzen. Unsicher gebundene Menschen hingegen sind in der Bewältigung ihrer Emotionen eingeschränkt. In einem Projekt konnten die Erlanger Psychologinnen und Psychologen beispielsweise zeigen, dass diese Personen größere Schwierigkeiten bei der Verlustbewältigung haben – manche von ihnen hatten den Tod eines Familienmitglieds nach vielen Jahren noch nicht verarbeitet.

Menschen sind in der Lage, ihre Erfahrungen, ihre Verhaltensweisen und Motivationen zu reflektieren und auf diese Weise einen sicheren Bindungsstatus zu erlangen.

Am Lehrstuhl für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie wird auch untersucht, ob der Bindungsstatus sich im Lebensverlauf ändert. Das Ergebnis: Bindungsmuster sind zwar relativ stabil, doch die Annahme, dass die Determination ein Leben lang bestehen muss, ist überholt. „Das Verhalten der Eltern oder anderer Bezugspersonen kann sich ändern, die Lebenssituation ebenfalls – solche Faktoren können Bindungsrepräsentationen beeinflussen“, erklärt Spangler. „Außerdem sind Menschen durchaus in der Lage, ihre Erfahrungen, ihre Verhaltensweisen und Motivationen zu reflektieren und auf diese Weise einen sicheren Bindungsstatus zu erlangen.“

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Über den Autor

Matthias Münch studierte Soziologie und arbeitete als freier Journalist bei verschiedenen Tageszeitungen. Seit 2001 unterstützt er Unternehmen und wissenschaftliche Einrichtungen bei der Öffentlichkeitsarbeit und Corporate Communication.


FAU-Forschungsmagazin friedrich

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