Gekommen, um zu gehen

Steinengel mit Text einer Traueranzeige
(Collage: Peter Hermes Furian (Foto); Christian Harnoth (Grafik))

Eine Kurzgeschichte

Ich erwachte an einem Ort, an dem ich noch nie zuvor gewesen war. Ein endloser Gang, der Fußboden, die Wände, ja selbst die Decke waren schneeweiß gefliest, die Fugen zwischen den polierten Quadraten kaum auszumachen. Unzählige weiß getäfelte Türen gingen von diesem unwirklichen Schlauch ab. Ich konnte das Ende des Gangs nicht annähernd erkennen, er verlief sich einfach in der Ferne wie in einem Traum.

Traum, das musste es sein. Ich träumte. Es gab keine andere Erklärung.

„Dies ist kein Traum“, flötete eine helle, freundliche Stimme, die aus den Fliesen selbst zu kommen schien. „Herzlich willkommen, wir haben Sie schon erwartet. Sie werden Ihr Zimmer sicher finden.“

Jetzt war ich mir sicher, dass ich träumte.

„Ich kann Ihnen versichern, dass Sie nicht träumen“, echote es aus dem Nirgendwo und Überall zurück.

„Wo bin ich hier? Wie komme ich hierher?“ Ich konnte selbst nicht verstehen, warum ich der Stimme antwortete.

„Sie sind im Archiv. Dort, wo Sie hingehören. Bitte begeben Sie sich in Ihr Zimmer. Die Ordnung muss gewahrt werden.“

Archiv? Ordnung? Ich verstand nicht, wovon die Stimme sprach. Ich hatte doch meinen Platz in der Welt. Ich war überall! Ich war auf Instagram, auf TikTok, auf Snapchat, ich war auf der ganzen Welt gleichzeitig und überall. Der halbe Erdball huldigte mir, kam nicht ohne mich aus. Ich musste zurück aus diesem schlechten Traum, zurück in die Realität, die ohne mich so viel ärmer und langweiliger war. Sicher vermissten sie mich schon, ich war der heißeste Trend der Welt und würde es noch lange sein.

„Niemand vermisst Sie. Machen Sie sich keine Gedanken. Dies ist nun Ihr neues Zuhause. Wir kümmern uns um Sie. Bitte begeben Sie sich nun in Ihr Zimmer.“

Vorsichtig tat ich den ersten Schritt und fühlte mich dabei leicht wie eine Feder. All der Trubel und die Euphorie der letzten Tage und Wochen war wie weggeblasen. Mein Blick fiel auf die erste Tür zu meiner Linken, auf der ein kleines, transparentes Schild angebracht war, auf das jemand unleserlich einen Namen geschrieben hatte. Neugierig rüttelte ich an der Tür, bis sie mit einem leisen Klicken aufschwang. Noch bevor ich einen Blick in den Raum hinter der Tür werfen konnte, steckte mir eine unsichtbare Hand einen Löffel in den Mund und lud eine Ladung Pulver auf meiner Zunge ab. Augenblicklich wurde sämtliche Feuchtigkeit aus meinem Mund, ja meinem ganzen Körper gezogen. Meine Kehle rebellierte, schnürte sich zusammen, und ohne dass ich es kontrollieren konnte, entlud sich mein Körper in einem gigantischen Hustenanfall, der mich springen und zittern, das braune Pulver aus meinem Mund sprühen und mir Tränen in die Augen steigen ließ. Zimt, na klar. Wie kam denn dieser Trend hierher, und warum wurde er in dem Raum gefangen gehalten?

Mit einem entschlossenen Ruck schmiss ich die Tür zurück ins Schloss und spuckte röchelnd das braune Pulver in den Flur. Langsam beruhigte ich mich wieder, als die helle Stimme erneut ertönte: „Sie können gerne in alle Räume gehen und das Archiv erkunden. Aber bitte trödeln Sie nicht, Ihr Zimmer wartet bereits.“

Vorsichtig ging ich zur nächsten Tür und öffnete sie einen winzigen Spalt, ohne das Schild genauer anzusehen. Nichts geschah. Hinter der Tür schien einfach nur ein schwarzer Raum zu sein. So viel zu diesem Archiv, von dem die Traumstimme sprach. Welches Archiv verfügt über leere, unbeleuchtete Räume? Ich tastete nach einem Lichtschalter, fand aber keinen. Als ich mir sicher war, dass hinter der Tür nichts war, ging ich einen Schritt in den dunklen Raum und gefror schlagartig, als mich ein Schwall eiskaltes Wasser traf. Ich spürte deutlich einzelne Eiswürfel auf mich regnen. Das Wasser war so kalt, dass mir nicht einmal mehr ein Schrei über die Lippen kommen wollte. Ich war völlig durchnässt und unfähig, mich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Nach endlosen Minuten, in denen das Gefühl langsam wieder in meine schockgefrosteten Glieder kroch, verließ ich den Raum, schloss die Tür hinter mir und atmete kurz durch. Manche Trends waren wirklich unangenehm.

Was ging hier vor? Meine Neugier kannte keine Grenzen mehr. Tropfend nass und frierend öffnete ich die nächste Tür. Ein dröhnender Beat schlug mir entgegen, der ganze Raum glitzerte und blinkte wie eine Großraumdisco. Tänzerinnen und Tänzer verbogen sich und wedelten mit ihren Händen. Ohne dass ich es gemerkt hatte, tanzte auch ich im Rhythmus der Musik – unfähig, bei diesem Beat stillzustehen. Ich verstand kein Wort vom Gesang irgendeiner fremden Stimme, der auf mich einprasselte. Aber das machte nichts – ganz im Gegenteil, irgendwie wurde der Song dadurch sogar noch besser. Das dazugehörige Musikvideo war lange Zeit das erfolgreichste Video der Welt auf Youtube, Milliarden (ja, Milliarden!) von Klicks und Views. Für einige Wochen gab es nur diesen Song, dieses Video – und dann lange nichts. Ich hatte schon lange nicht mehr daran gedacht, musste ich mir eingestehen.

Und plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Ich war im Trend-Limbus gelandet. Meine Zeit im Scheinwerferlicht war abgelaufen.

„Schön, dass Sie das so schnell selbst eingesehen haben“, flötete die Stimme von überall und nirgendwo. „Sicher fällt es Ihnen schwer, sich an den Gedanken zu gewöhnen. Das ist normal, glauben Sie mir.“

Ich versuchte, meine Gedanken in Worte zu fassen. „Bedeutet dies, dass ich out bin? Erinnern sich die Menschen denn nicht mehr an all die guten Augenblicke, die ich ihnen gegeben habe? Niemand?“

„Doch, sicher erinnern sich die Menschen an Sie. Aber nur sehr selten und mit einem Gefühl von Wehmut und Vergänglichkeit. Aber machen Sie sich keine Sorgen um die Menschen, die haben bereits einige neue Trends und Hypes gefunden, mit denen sie sich die Zeit vertreiben. Und nun bitte ich Sie, sich in Ihr Zimmer zu begeben. Unser Archiv ist tausende von Jahre alt, und wir haben nicht ewig Zeit.“

Resigniert machte ich mich auf den Weg durch den schier endlosen Gang. Nun gut, dachte ich mir, das ging schneller als gedacht. Aber wenigstens war ich berühmt – wenn auch nur für wenige Tage.

Über den Autor

Immanuel Reinschlüssel ist Mitbegründer des Fürther Autorenduos „Die Schaffenskrise“. Neben Veröffentlichungen in Anthologien publizierte er zwei Kurzgeschichtenbände, zwei Lyrikbände sowie ein Hörbuch.


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