Was bedeuten die Begriffe „esoterisch“ und „alternativ“? Wer bezeichnet wen damit, und wie wirkt sich das auf Politik und Gesellschaft aus? Das untersuchen Giovanni Maltese und die Kollegforschungsgruppe CAS-E.
Sin Büro an der Uni ist nüchtern und sachlich. Kein Kreuz oder Mandala an der Wand deutet darauf hin, dass hier ein Religionswissenschaftler arbeitet, kein Buddha auf dem Schreibtisch legt die Vermutung nahe, dass sich der Forscher mit „Alternative Rationalities and Esoteric Practices from a Global Perspective“ beschäftigt. Doch auf Giovanni Maltese trifft beides zu: Seit April 2024 ist er Lehrstuhlinhaber für Religionswissenschaft und Interkulturelle Theologie an der FAU und bringt vom ersten Tag an seine Expertise in die Kollegforschungsgruppe mit der Abkürzung CAS-E ein, die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wird.
„In den letzten Jahren berichten deutsche Medien sehr viel über spirituell angehauchte rechtsextreme Gruppen, Querdenker und Verschwörungserzählungen“, sagt Maltese. „Oft fällt dabei auch das Wort esoterisch, und es ist die Rede von alternativen Weltbildern oder Religionen.“ Doch was genau bedeuten diese Begriffe, und welche Auswirkungen – zum Beispiel gesellschaftlich und medial – hat es, wenn Menschen so bezeichnet werden? „Mich interessiert, wie Diskurse über Religion und alternative Weltbilder auf gesellschaftliche und politische Prozesse einwirken“, erklärt der Religionswissenschaftler. Er selbst schaut sich vor allem evangelikale und pfingstlich-charismatische sowie reformislamische und mystische Bewegungen an und beschäftigt sich viel mit Südostasien, denn schon während seines Studiums lebte und forschte er einige Jahre auf den Philippinen.
Ritualmeister aus Taiwan in Erlangen

Seine Ergebnisse waren auch für den Sinologen Michael Lackner, den Religionswissenschaftler Andreas Nehring und den Kultur und Sozialanthropologen Dominik Müller interessant. Die CAS-E-Gründer holten den neuen Kollegen sofort mit ins Boot, 2025 trat Maltese dann die Direktorenposition als Nachfolger Nehrings an. „Zu Beginn unserer Arbeit stand die Beobachtung, dass weltweit unterschiedliche Rituale praktiziert werden, um Lebensereignisse vorherzusagen, zu kontrollieren oder zu manipulieren“, erzählt Michael Lackner. „In China gibt es FengShui, in Westafrika Vodun, in Israel Kabbalah Ma‘asit, in Indien Vastu, in der Karibik Brujas und in Deutschland Ritualmagie.“ Die Liste der unterschiedlichen Methoden weltweit sei ausgesprochen lang, bisher aber weder umfassend dokumentiert noch kartiert.
Das will die Forschungsgruppe mit ihrem großangelegten interdisziplinären Projekt nachholen und lädt dafür von Zeit zu Zeit auch Ritualmeister aus der ganzen Welt nach Erlangen ein. Anfang Juli war eine Delegation aus Taiwan zu Gast und vollzog eine „Writing with the Phoenix Stylus“-Performance: Drei taoistische Ritualmeister in langen weißen Gewändern nahmen Michael Lackner in ihre Mitte, hielten einen großen roten Stock aus Holz über seinen Kopf, murmelten leise Worte vor sich hin und zeichneten schließlich mit einem besonderen Stift chinesische Schriftzeichen in eine Sandschale. „Dieses sogenannte Geisterschreiben ist eine beliebte Form der Wahrsagerei, die sowohl in taoistischen Tempeln als auch in Tempeln der chinesischen Volksreligion praktiziert wird“, erklärt Lackner. „Mit dem Phönixgriffel empfangen die Ritualmeister Botschaften von einem Gott oder Geist und schreiben sie nieder.“ Ob solche Rituale und andere Praktiken weltweit etwas gemeinsam haben, wie sie vergleichend untersucht werden können, ohne dabei an eurozentrischer Stereotypisierung mitzuwirken, und wie wir Zugang zum Wissen der Praktizierenden erlangen können, stand lange Zeit im Mittelpunkt von CAS-E.
Wie wird über Wahrheit und Wissen gestritten?

„Inzwischen hat sich unsere Perspektive weiterentwickelt“, betont Giovanni Maltese. „In unseren Fokus rückt zunehmend die Analyse, wer etwas als esoterisch oder alternativ bezeichnet, wann und wo das geschieht, welches Interesse dahintersteckt und welche gesellschaftlichen, politischen oder ideologischen Ziele damit verfolgt werden. Dabei geht es auch darum, wie in der Gesellschaft über Wissen und Wahrheit gestritten wird.“ Diese zentralen Fragen geht der neue Direktor von CAS-E gemeinsam mit Forschenden aus anderen Disziplinen an. „Wir wollen die oftmals stereotypen Zuschreibungen hinterfragen und weder romantisieren noch pauschal abwerten“, erklärt er. „Aber natürlich schauen wir auch genau hin, warum esoterische Praktiken seit der Coronapandemie verstärkt mit demokratiefeindlichen, menschenverachtenden oder rechtsextremen Ideologien verflochten sind, starken Zulauf gewonnen haben und warum Verschwörungserzählungen so viele Menschen erreichen können.“
Ein viel diskutiertes und emotionsgeladenes Thema also, das der Wissenschaftler auf theoretische und methodisch nachvollziehbare Weise kritisch angeht. Denn sein Ziel ist es, einen differenzierten und verantwortungsvollen Beitrag zum Status von Wissenschaft in Zeiten „alternativer“ Fakten zu leisten.
CAS-E: neue Perspektiven
Lehren und Rituale wie FengShui, Kabbala Ma‘asit, Vodun oder Bomoh stoßen in unserem westlich geprägten wissenschaftlichen und technischen Diskurs auf wenig Verständnis. Das Center for Advanced Studies – Erlangen „CAS-E“ will die verzerrenden eurozentrischen Stereotypen überwinden und alternative Praktiken in vergleichenden Studien untersuchen. Angestrebt wird eine Synergie der Kultur und Sozialanthropologie, der Religionswissenschaft, der Regional und Literaturwissenschaft sowie der Sozial und Politikwissenschaft. Die von der DFG geförderte KollegForschungsgruppe hat Ende 2022 ihre Arbeit aufgenommen.
Elke Zapf

Dieser Artikel ist Teil des FAU Magazins
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