Prof. Safferling über den Status Quo des Völkerrechts und welche Stärken es hat
Mit den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen begann 1945 ein neues Kapitel des Völkerrechts. Auch nach der Auflösung der Sowjetunion 1991 und dem endgültigen Ende des Kalten Krieges schien eine regelbasierte Weltordnung möglich. Doch die Realität des 21. Jahrhunderts zeigt tiefe Brüche. Beispielsweise stellen Russlands Angriff auf die Ukraine oder die jüngsten Eskalationen im Nahen Osten rechtliche Maßstäbe infrage. In seinem neuen Buch „Ohnmacht des Völkerrechts“ zeichnet Prof. Dr. Christoph Safferling, Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht und Völkerrecht an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU), diese Entwicklung nach. Sein Appell: Deutschland müsse völkerrechtliche Standrads konsequent einfordern, denn geltendes Recht dulde keine Kompromisse.
Herr Safferling, der Titel Ihres Buches „Ohnmacht des Völkerrechts – Die Rückkehr des Kriegs und der Menschheitsverbrechen“ ist provokant gewählt. Was war Ihre Motivation für das Buch?
In der Tat ist die Wirkung des Titels so gewollt. Er greift das Gefühl auf, das viele Menschen angesichts der aktuellen Weltlage empfinden, nämlich eine tiefe Verunsicherung darüber, dass das Völkerrecht keine schnellen Lösungen bietet. Kriege wie in der Ukraine oder im Gaza-Streifen zeigen, dass Recht nicht automatisch Frieden schafft. In meinem Buch möchte ich verdeutlichen, warum das so ist und welche Grenzen, aber auch vor allem welche Chancen das Völkerrecht hat. Es funktioniert nun einmal nicht wie ein nationales Strafrechtssystem mit Polizei und Staatsanwaltschaft. Mir ist es daher wichtig zu erklären, was realistisch erwartet werden kann und warum die Lage nicht so hoffnungslos ist, wie sie scheint.
Aktuell ist die weltpolitische Lage angespannt. Wie kann in diesen Zeiten das Völkerrecht für Sicherheit und auch die Wahrung der Menschenrechte sorgen?
Derzeit sprechen vielerorts die Waffen. Und in solchen Phasen kann das Völkerrecht keine sofortige Befriedung herbeiführen. Diplomatie hat Vorrang, erst danach beginnt die eigentliche Stunde des Rechts. Vorher müssen neue Ordnungen geschaffen und Verantwortlichkeiten in und zwischen den Staaten geklärt werden.
Dennoch ist das Völkerrecht keineswegs wirkungslos. Schon jetzt werden Verbrechen umfassend dokumentiert, Ermittlungen geführt und erste Haftbefehle erlassen. Das zeigt, dass Rechtsbrüche benannt werden und Institutionen bereitstehen, um sie aufzuarbeiten. Diese Prozesse schaffen die Grundlage dafür, dass nach Ende der Gewalt Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen und Rechte der Opfer gestärkt werden.
Wenn Staatschefs ohne Konsequenzen weiter regieren können gleichwohl sie Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehen, scheint es so als hätte das Völkerrecht keine Durchsetzungskraft in den politischen Machtstrukturen. Wie standhaft ist denn das Völkerrecht aktuell?
Internationale Strafjustiz kann in solchen Fällen nur begrenzt durchgreifen, wenn politische Machtstrukturen Täter schützen. Anders als in nationalen Systemen gibt es keine Behörden, die Haftbefehle zwangsweise vollstrecken können. Autokraten können sich hinter den eigenen staatlichen Strukturen lange Zeit verstecken, auch wenn sie schwerste Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehen. Das bedeutet jedoch nicht, dass das Völkerrecht wirkungslos ist. Seine Stärke zeigt sich, sobald politische Rahmenbedingungen kippen. Dann können Verfahren geführt werden, die – wie einst in Nürnberg beim Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher – ganze Systeme delegitimieren. In solchen Momenten entfaltet das Recht seine volle Wirkung. Bis dahin ist es auf internationale Kooperation und Geduld angewiesen, bleibt aber ein unverzichtbarer Maßstab.
Das ist eine Stärke des Völkerrechts. Können Sie weitere benennen?
Das Völkerrecht entfaltet seine Kraft vor allem langfristig. Es legt Regeln fest, die Staaten an menschenrechtliche und humanitäre Standards binden. Besonders wirksam wird es nach großen Konflikten, wenn Dokumentation und Ermittlungen zu Gerichtsverfahren führen. Diese Verfahren, die wir heute eben haben, ermöglichen es, Unrecht klar zu benennen und Verantwortung festzustellen. Auch wenn es schmerzt, Geduld zu haben, ist dieser langfristige Blick eine zentrale Stärke des Völkerrechts.
In den letzten Jahren hat es sich scheinbar verselbstständigt, dass das Völkerrecht mehr und mehr missachtet wird. Worin sehen Sie Gründe für diese Entwicklung?
Die Missachtung des Völkerrechts ist historisch kein neues Phänomen. Seit dem Westfälischen Frieden, der 1648 den Dreißigjährigen Krieg beendete, gab es immer wieder Phasen schwerer Krisen. Neu ist jedoch der moralische Anspruch, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg und den Nürnberger Prozessen entwickelt hat. Diese Maßstäbe lassen heutige Verstöße gravierender erscheinen. Zugleich hat der „Westen“ in den vergangenen Jahrzehnten selbst Glaubwürdigkeit verloren, etwa durch Rechtsbrüche im „Krieg gegen den Terror“. Das führte zu Doppelstandards, die bis heute nachwirken. Wer damals schwieg oder mittrug, muss sich heute nicht wundern, wenn diesen Ländern Inkonsequenz vorgeworfen wird.
Weitere Informationen:
Prof. Dr. Christoph Safferling
Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht und Völkerrecht
christoph.safferling@fau.de
