Mit der digitalen Zeitmaschine durch Europa schlendern

Prof. Dr. Andreas Maier, Leiter des Lehrstuhls für Informatik 5 (Mustererkennung) der FAU (Bild: FAU/Uwe Niklas)
Prof. Dr. Andreas Maier, Leiter des Lehrstuhls für Informatik 5 (Mustererkennung) der FAU (Bild: FAU/Uwe Niklas)

FAU-Forscher möchten 2.000 Jahre europäische Geschichte erfahrbar machen

Der Traum durch die Zeit zu reisen – ob nun in die Vergangenheit oder in die Zukunft – ist so alt wie die Menschheit an sich. Wissenschaftler der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) sind an einem europaweiten Forschungsprojekt beteiligt, welches diesen Traum, zumindest im übertragenem Sinn, wahr werden lassen möchte. Das Time Machine Project wird von der École Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL) in der Schweiz geleitet, neben der FAU sind insgesamt 174 Universitäten, Forschungseinrichtungen, Industriepartner und kleinere und mittlere Unternehmen aus 32 EU-Ländern beteiligt. Ziel des Projekts ist es, ein umfassendes digitales Archiv für 2.000 Jahre europäische Geschichte zu erschaffen, in welchem sämtliche in Europa verfügbaren Dokumente, archäologische Funde sowie weitere Zeugnisse der Vergangenheit miteinander verknüpft und für die Öffentlichkeit zugänglich sind. Nun hat es das Time Machine Project in die zweite Auswahlrunde zum FET Flagship geschafft. FET Flagships sind herausragende Forschungsinitiativen, die sich mit den großen wissenschaftlichen, technischen und sozialen Herausforderungen unserer Zeit beschäftigen und über 10 Jahre mit einer Milliarde Euro von der EU gefördert werden.

Prof. Dr. Andreas Maier, Lehrstuhl für Informatik 5 (Mustererkennung), ist einer von 30 Wissenschaftlern der FAU und Mitglied des Leitungskreises des Konsortiums, die mit ihrer Forschung dieses umfangreiche Vorhaben unterstützen. Im Interview erklärt er, wie diese Zeitreise funktioniert, welche Technik benötigt wird und welche Bedeutung das Projekt für Europa und ihre Bürgerinnen und Bürger hat.

Prof. Dr. Maier, der Name „Time Machine Project“ lässt einen sofort an den Science-Fiction-Roman von H. G. Wells denken. Wie funktioniert denn die „Zeitmaschine“ des Projekts?

Leider können wir nicht, wie in dem Roman von Wells, wirklich durch die Zeit reisen. Allerdings haben wir heute Techniken wie Virtual Reality und Augmented Reality, die es uns erlauben, ganz anders mit der Vergangenheit umzugehen. Stellen Sie sich smarte Brillen wie Google Glass oder HoloLens vor, mit denen Sie Ihre Umgebung im Zustand von vor 100, 200, oder sogar 2.000 Jahren betrachten können. Dabei können Sie dann virtuell die Zeit manipulieren und so die Jahrhunderte erforschen. Es ist unser erklärtes Ziel, möglichst alle bekannten Dokumente, Artefakte, Personen und deren Konstellation zueinander sowohl zeitlich als auch örtlich zu erfassen. Damit soll es möglich werden, verschiedenste Anwendungen zu realisieren. Dies kann von einfachen Touristeninformationen über Nacherleben von wichtigen Ereignissen in der europäischen Geschichte, Förderung von Bürgerwissenschaft, auch Citizen Science genannt, bis hin zu tiefgehender geisteswissenschaftlicher Forschung reichen. Dabei wollen wir nicht nur digitalisieren, sondern auch mit neuartigen Werkzeugen, die auf künstlicher Intelligenz basieren, Simulationen und Rekonstruktionen schaffen, die wiederum neue Erkenntnisse über die Vergangenheit liefern. Natürlich kann ein solches Mammutprojekt nicht von einer einzelnen Institution erreicht werden. Jedoch ist das Ziel so attraktiv, dass wir schon über 170 Europäische Partner gewinnen konnten, die das Projekt nach besten Wissen und Gewissen unterstützen.

Wie wird sich das Time Machine Project auf den Zugang zu Geschichte und Kultur Europas und somit vielleicht auf unser Verständnis von Europa auswirken?

Wir hoffen, dass wir den Menschen mit unserer Arbeit den Zugang zu historischen Fakten erleichtern können. Gerade in Zeiten von geschichtlichem Revisionismus und dem scheinbaren Schwinden der europäischen Idee, ist es wichtig, unser gemeinsames Erbe und unsere gemeinsame Geschichte wieder in den Mittelpunkt zu rücken. Die Zeitmaschine soll ja eine europäische Zeitmaschine werden.

Ein besonderer Fokus des Projekts liegt natürlich auch darauf, dass wir nicht nur Daten zusammentragen, sondern auch jeder Beobachtung eine gewisse Verlässlichkeit zuordnen. Nicht jeder darf unsere Daten einfach verändern, indem Personen und Orte erfunden werden können, wie es heute beispielsweise bei Wikipedia der Fall ist. Wir denken, dass wir damit also auch einen Beitrag gegen die Verbreitung von historischen „Fake News“ leisten können.

Wäre es denn möglich, solch ein digitales Archiv auf globaler Ebene zu realisieren?

Diese Idee ist natürlich spannend und tatsächlich legen wir bei unseren Entwicklungen Wert darauf, dass diese auch weltweit einsetzbar sind. Die von uns erarbeiteten Lösungen sind dezentral und basieren auf der Struktur und Funktion des Internets, welches ja sehr schnell eine weltweite Anwendung gefunden hat. Man könnte unseren Ansatz auch plakativ so formulieren: Wir wollen einen „Zeit-Schiebebalken“ am Internet anbringen.

Wie entstand die Idee zu dem Projekt?

Wie bei vielen guten Ideen war auch hier der Zufall beteiligt. Frédéric Kaplan, Leiter des Digital Humanities Laboratory der EPFL, wurde für eine Besprechung zu möglichen wissenschaftlichen Kooperationen nach Venedig eingeladen. Ohne genau zu wissen, was ihn dort erwarten würde, nahm er teil. Dort entstand zunächst die Idee für die „Venice Time Machine“, die zu einem erfolgreichen Horizon 2020 Projekt geführt hat. Horizont 2020 ist ein EU-Förderprogramm für Forschung und Innovation, das von der Europäischen Kommission ausgeschrieben wird. In der Folge startete er einen Aufruf zu einem FET Flagship in den digitalen Geisteswissenschaften unter dem Namen „European Time Machine“, der an alle europäischen Horizon 2020 Projekte verschickt wurde, zunächst mit der Bitte den englischen Aufruf in die Landessprachen zu übersetzen. Diesem Ruf kamen wir mit der deutschen Übersetzung nach. Seit diesem Moment ist die FAU eine der treibenden Kräfte in dem Projekt.

Und welche Aufgabe hat die FAU?

Das Projekt ist ideal für die Struktur der FAU geeignet, da wir eine Volluniversität mit starken geisteswissenschaftlichen und ingenieurwissenschaftlichen Partnern sind. Damit können wir auf allen Ebenen in dem Projekt mitwirken und hervorragende Vorarbeiten aus unserer Forschung und unserer Lehre beispielsweise im Studiengang „Digital Humanities“ einbringen. Konkret arbeiten wir bei der Erstellung des Arbeitsplans für die nächste Projektphase mit, wobei ich für die Koordination der Säule „Wissenschaft und Technologie“ zuständig bin und mein Kollege Prof. Dr. Peter Bell den Aufbau der deutschen Sparte der Zeitmaschine übernommen hat. Natürlich leisten wir auch das nicht vollständig alleine, sondern arbeiten mit vielen Partnern bundesweit zusammen, wie der TU Dresden, die den Aufbau der deutschen Zeitmaschine intensiv unterstützt.

Das Time Machine Project ist in die zweite Auswahlrunde zum FET Flagship gekommen. Was bedeutet das für das Projekt und wie geht es nun weiter?

Natürlich haben wir uns sehr gefreut, dass wir in der ersten Runde von mehr als 30 Projektvorhaben ausgewählt wurden. In dieser zweiten Runde sind nur noch 17 Konsortien übriggeblieben. Davon werden bis Jahresende sechs ausgewählt, die einen FET-Flagship-Vollantrag ausarbeiten dürfen. Allein für die Finanzierung der Antragstellung werden pro Konsortium eine Million Euro ausgeschüttet, um entsprechende Vorarbeiten auf den Weg zu bringen. Wir sind also mitten in einem spannenden und hoch-kompetitiven Auswahlverfahren. Natürlich muss man dabei bedenken, dass wir mit dem Time Machine Project eine gewisse Außenseiterrolle haben, da wir gegen Robotik und Gesundheitswesen 4.0 antreten. Jedoch habe ich Vertrauen in unser Konsortium und muss zugeben, dass das Projekt an sich so spannend ist, dass sich jedes Engagement lohnt, sogar, wenn wir am Ende kein FET Flagship werden.

Weitere Informationen:

Prof. Dr.-Ing. habil. Andreas Maier
Tel.: 09131/85-27775
andreas.maier@informatik.uni-erlangen.de