Späte Brüche – Halten Materialien ewig?

Heinz Werner Höppel ist Spezialist für die Ermüdungsprozesse von Materialien
Stahlfedern können unendlich oft schwingen. Auch Radachsen halten bis in die Ewigkeit. In der Materialforschung galt diese Theorie lange Zeit als gewiss – bis ein ICE entgleiste.
von Frank Grünberg
Am 9. Juli 2008 entgleiste ein Intercity Express (ICE) bei der Ausfahrt aus dem Kölner Hauptbahnhof bei niedrigem Tempo. Niemand wurde verletzt. Der Sachschaden war relativ gering. Auch die Wartung war vorschriftsgemäß erfolgt. Dennoch ging der Fall in die Geschichte des Bahnverkehrs ein.
Der Grund: Als Ursache für den Bruch stellten Experten „Einschlüsse unzulässiger Größe“ im Inneren der stählernen Achse fest. „Dieses Schadensmuster war damals völlig neu“, blickt Dr. Heinz Werner Höppel, Privatdozent am Department Werkstoffwissenschaften der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, zurück. „Späte Brüche wie diesen hatte es bis dahin im europäischen Bahnverkehr nicht gegeben.“
Höppel ist Spezialist für die Ermüdungsprozesse von Materialien. Die Entgleisung des Hochgeschwindigkeitszuges bestätigte einen Verdacht, den Experten wie er schon länger hegten: Die moderne Technik zwingt die Materialforschung dazu, die Lehrsätze der Vergangenheit auf den Prüfstand zu stellen.
Ein Diagramm für die Lebensdauer
Ein zentrales Werkzeug der Materialforschung ist das Wöhler-Diagramm. August Wöhler, Mitglied der Generaldirektion der Reichseisenbahnen, entwickelte im späten 19. Jahrhundert eine später nach ihm benannte Versuchs- und Analyse-Methodik, mit der sich die Lebensdauer von stählernen Bauteilen bei fortdauernden Wechsellasten beschreiben ließ. Bis dahin hatten die Experten keine Unterschiede zwischen der statischen und der dynamischen Beanspruchung von Stahl gemacht. Am 19. Oktober 1875 aber entgleiste auf der Strecke Salzburg-Linz eine Lokomotive, weil ein Radreifen überraschend brach.
Das typische Verhalten von stählernen Bauteilen lässt sich am mehrmaligen Verbiegen einer Büroklammer verdeutlichen. Bei großen Belastungs-Amplituden bricht die Klammer bereits nach wenigen Versuchen. Bei mittleren Amplituden hält sie beträchtlich länger. Und bei geringen Amplituden nimmt sie gar keinen sichtbaren Schaden mehr.
Im Wöhler-Diagramm wird dafür in der senkrechten y-Achse die Belastungs-Amplitude und in der waagerechten x-Achse die Zahl der Wechsellasten aufgetragen. Die resultierende Kurve beschreibt die Lebensdauer eines Bauteils in Abhängigkeit von der Belastung. Im Bereich der „Zeitfestigkeit“ ist die Lebensdauer bei hohen Amplituden gering. Sie wächst aber bei sinkender Belastung. Bei weiter sinkender Belastung mündet die Kurve schließlich in eine Waagerechte. Hier wird eine Grenzamplitude erreicht, unterhalb der man die Klammer unendlich oft verbiegen kann. Experten bezeichnen diesen Wert als „Dauerfestigkeit“.
Die Theorie der Dauerfestigkeit lässt sich verallgemeinern, also auch auf schwingende Federn oder rotierende Wälzlager übertragen. Zahlreiche Versuche zeigten: Im Bereich der Dauerfestigkeit sind typischerweise bis zu zehn Millionen Wechselbelastungen möglich, ohne dass ein Bauteil bricht.
Wechsellasten führen zu Rissen
Mehr als 130 Jahre genügte diese Theorie der Praxis. Schließlich gab es meist keine Bauteile, die höheren Belastungszyklen ausgesetzt waren. Dann aber entgleiste in Köln der ICE. „Damit wurde klar, dass der Bereich der Dauerfestigkeit nicht uneingeschränkt zu höheren Belastungszyklen ausgedehnt werden darf“, erklärt Dr. Höppel. Vielmehr existiere ein Bereich, der durch Späte Brüche gekennzeichnet sei. „Die Regelwerke und Lehrbücher werden daher gerade umgeschrieben.“
Traditionell schauten die Materialforscher lediglich auf die Veränderungen in der Oberfläche, wenn sie nach den Ursachen für Materialermüdung suchten. Die gesicherte Erkenntnis: Durch die Wechsellasten – Verbiegen, Verdrehen, Stauchen oder Dehnen – treten an der Oberfläche verstärkt plastisch-irreversible Verformungen auf, die zu Rissen und später zum Bruch führen können.
Die neue Erkenntnis aber lautet: Stahl kann auch unterhalb der Grenzamplitude brechen, wenn im Inneren störende Fremdphasen eingeschlossen sind, die beispielsweise bei der Herstellung entstehen. Zwar treten diese Brüche erst sehr viel später auf – typischerweise bei mehr als zehn Millionen Lastwechseln. Allerdings wird diese Grenze durch moderne Technik immer häufiger überschritten, etwa bei schwingenden Folien, die in Mobiltelefonen als Frequenz-Filter dienen, bei Diesel-Einspritzpumpen in langlebigen Lkw-Motoren, oder eben bei den Achsen von modernen Hochgeschwindigkeitszügen. Auch bei neuzeitlichen Wolkenkratzern wirkt sich das Wissen um Späte Brüche inzwischen auf die Dimensionierungsvorgaben des Stahlgerüstes aus.
Im Falle des entgleisten ICE ließ sich die Belastung anhand der Rahmenbedingungen – etwa der gefahrenen Kilometer, der Höchstgeschwindigkeit und der Geometrie der Räder und Achsen – sehr genau nachvollziehen. „Diese Erkenntnisse haben dazu geführt“, erklärt Höppel, „dass heute sehr viel mehr darauf geachtet wird, bei der Herstellung so wenig Fremdphasen wie möglich im Stahl der Achsen einzuschließen.“
Prüftechnik für sehr hohe Lebensdauerbereiche
Materialwissenschaftler erforschen den Bereich der sehr hohen Lastwechsel schon seit mehr als 20 Jahren. In dieser Zeit entwickelten sie auch eine geeignete Prüftechnik, die in der Lage ist, mit vertretbarem Zeitaufwand in sehr hohe Lebensdauerbereiche von bis zu zehn Milliarden Lastwechseln vorzudringen.
Höppel und seine Kollegen beispielsweise betreiben dafür an der FAU in Erlangen eine einzigartige Ultraschall-Ermüdungs-Versuchsanlage, die erstmals aussagekräftige Messwerte über den langfristigen Schädigungsverlauf im Inneren einer stählernen Probe lieferte. Im Zuge der weiteren Grundlagenforschung will Höppel diese Erkenntnisse nun auf andere Materialien übertragen, um das Grundlagenwissen zu vertiefen und die Prognose-Modelle zu verbessern (siehe Kasten auf Seite 80 unten).
Ob er trotz des noch relativ jungen Wissens um die Entstehung von Späten Brüchen noch an die einst postulierte ewige Haltbarkeit von Materialien glaube? „In der Theorie ist das nach wie vor möglich“, sagt der Experte. „In der Praxis aber bleibt die Lebensdauer begrenzt. Denn wahrscheinlich wird es niemals Produktionsprozesse und Einsatzbedingungen geben, bei denen man die Entstehung von inneren Defekten komplett ausschließen kann.“
Der friedrich – das Forschungsmagazin der FAU

Dieser Artikel erschien zuerst in unserem Forschungsmagazin friedrich. Die aktuelle Ausgabe beschäftigt sich mit dem Thema Ende in all seinen Formen: Welche davon sind unausweichlich? Wie setzen sich Menschen damit auseinander? Und was bedeuten sie für den einzelnen? Und ist das, was Menschen als Ende definieren wirklich der Schlusspunkt? Manchmal verändern sich Dinge nur, entwickeln sich weiter, es entsteht etwas Neues. Mitunter ist das Ende aber auch gar kein Thema: Der Mensch strebt nach Unendlichkeit. Können wir diesen Begriff überhaupt verstehen? Ist Innovation unendlich? Und leben wir unendlich weiter – im Internet?
Weitere Beiträge aus dem Magazin finden Sie unter dem Stichwort „friedrich“.