Medizin-Nobelpreis für Chinesin: „Mao-Ära nicht einfach zu bewerten“

Prof. Dr. Marc Andre Matten (Bild: Jacob Krüger)
Prof. Dr. Marc Andre Matten (Bild: Jacob Krüger)

Eine der diesjährigen Preisträger des Nobelpreises für Medizin ist die Chinesin Youyou Tu. Warum das gleich in zweifacher Hinsicht außergewöhnlich ist, erklärt Sinologe Prof. Dr. Marc Matten von der FAU.

Der Nobelpreis für Medizin wird in diesem Jahr an drei Mediziner verliehen, die sich um die Erforschung parasitärer Krankheiten verdient gemacht haben: an den irischen, in der USA tätigen Biochemiker William Campbell, den japanischen Chemiker und Pharmakologen Satoshi Omura – und die chinesische Pharmakologin Youyou Tu. Für China ist es damit der erste Nobelpreis im Bereich der Medizin.

Youyou Tu, geboren 1930, erhält den Preis für ihre Suche nach einem Heilmittel für Malaria. Sie entwickelte Ende der 60er-, Anfang der 70er-Jahre eine Extraktionsmethode für den Wirkstoff Artemisinin aus der Heilpflanze „Einjähriger Beifuß“. Statt durch Auskochen, eine in der traditionellen chinesischen Medizin häufig angewandte Methode, extrahierte Tu den Wirkstoff mit kalten Wasser, und konnte damit sehr schnell Behandlungserfolge bei Malariapatienten vermelden. Diese Einsicht, den Wirkstoff mit kaltem Wasser zu extrahieren, gewann Tu durch ihre Studien der Schriften des chinesischen Daoisten und Alchemisten Ge Hong (geb. um 280, gest. um 340), dessen Handbuch zu Behandlungen akuter Krankheiten sie im Rahmen ihrer Teilnahme an Projekt 523 – einem geheimem Militärprojekt während des Vietnamkrieges – studierte. Dort lautet ein Satz: „Man nehme eine Handvoll Beifuß, weiche es in der doppelten Menge Wasser ein, presse die Pflanzen aus und nehme den Saft zu sich.“ Ausgehend von diesem, im Chinesischen nur 15 Zeichen langen Satz, entwickelte Tu ihre Methode.

Die Ironie der Geschichte ist hier gleich doppelt zu beobachten. Zum einen daran, dass der Preis einer Frau verliehen worden ist, die im staatlichen chinesischen Wissenschaftsbetrieb nicht so fest verankert ist wie ihre Kollegen – ihre nun prämierten Erfolge sind damit auch nicht das Resultat der staatlich finanzierten und sich aktuell rasant entwickelnden Forschungslandschaft. Youyou Tu ist vielmehr bekannt für ihre „Drei-nicht-haben”, das heißt, sie hat keinen Doktortitel, ist nicht Mitglied der Chinesischen Akademie der Wissenschaften und hat keine Studien- oder Forschungserfahrungen im Ausland.

Zum anderen, dass sie einen Nobelpreis für eine Leistung aus der Ära erhalten hat, die in der Wissenschaftsgeschichte bis vor kurzem als anti-wissenschaftlich und anti-intellektuell verstanden wurde, nämlich die Zeit des Großen Sprungs nach vorn (1958-61) und der Kulturrevolution (1966-76). Tus Fall – neben vielen anderen bekannten und weniger bekannten – offenbart, dass die Mao-Ära nicht so einfach zu bewerten ist, will man den wissenschaftlichen und technologischen Durchbrüchen dieser Zeit nicht unrecht tun – auch wenn die offizielle Wissenschaftsphilosophie und -politik eine andere war. Dies zu zeigen, ist Ziel des aktuell an der Sinologie angesiedelten, drittmittelfinanzierten Forschungsprojekts „Science, Modernity and Political Behavior in Contemporary China (1949-1978)“.

Weitere Informationen:

Prof. Dr. Marc A. Matten
Tel.: 09131/85-23094
marc.matten@fau.de