Das Internet vergisst nichts

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Wie uns die Digitalisierung unsterblich macht

Peinliche Sprüche, böse Gerüchte – was in analogen Zeiten irgendwann in Vergessenheit geriet, lebt im digitalen Zeitalter ewig weiter. Denn dem Gedächtnis des Netzes sind keine Grenzen gesetzt.

von Elke Zapf

Beim Bewerbungsschreiben wird es vielen klar: Egal welche Bilder sie bisher in sozialen Medien gepostet haben – ob im knappen Bikini oder beim exzessiven Biertrinken – der zukünftige Arbeitgeber wird sie finden. Und natürlich auch die unbedachten Kommentare in Online-Foren, die flotten Sprüche in Facebook. Selbst die belanglosesten Fakten, die wir selbst schon längst vergessen haben, bleiben im Internet ewig gespeichert. Kann man solche Daten aus dem Netz löschen? Gibt es ein „Recht auf Vergessenwerden“? Welche Grenzen gelten für die Veröffentlichung von Bildern? Was passiert mit den Social-Media-Accounts von Verstorbenen? Fragen über Fragen aus dem digitalisierten Leben, mit denen sich auch Wissenschaftler der FAU beschäftigen.

Recht auf Vergessenwerden

Franz Hofmann ist Professor an der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der FAU und hat den Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Recht des Geistigen Eigentums und Technikrecht inne. Er interessiert sich unter anderem für den rechtlichen Schutz von immateriellen Gütern. Zuletzt hat er sich mit der Durchsetzung von Rechten im Internet beschäftigt. Dazu gehört auch das „Recht auf Vergessenwerden“.

Diesen Anspruch gibt es seit einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 13. Mai 2014. Geklagt hatte der Spanier Mario Costeja  González gegen Google. Denn bei der Suche nach seinem eigenen Namen zeigte ihm die Suchmaschine Links zu zwei älteren Seiten der Tageszeitung „La Vanguardia“ an, in denen sein Name im Zusammenhang mit der Versteigerung eines Grundstücks wegen Pfändung genannt wurde. González beantragte daraufhin bei der spanischen Datenschutzbehörde, dass sowohl die aufgefundenen Seiten der Tageszeitung als auch die Suchergebnisse von Google gelöscht werden sollten. Google weigerte sich, die Suchtreffer zu löschen – und die Angelegenheit ging bis vor den EuGH. Das Gericht gab dem Kläger recht und entschied unter anderem, dass die Nutzung von Suchmaschinen einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens darstellt. Denn über das Internet kann jeder ein mehr oder weniger detailliertes Profil zu einer gesuchten Person erstellen. „Die Suchergebnisse müssen gelöscht werden können, wenn die Interessen des Betroffenen die der Öffentlichkeit überwiegen“, erläutert Rechtswissenschaftler Hofmann das Urteil. An Informationen über eine Pfändung, die vor 16 Jahren stattgefunden hat, besteht ein solches Interesse bei „normalen“ Bürgern nicht.

Weil sich das Recht auf elektronisch gespeicherte Daten bezieht, sprechen manche auch vom „digitalen Radiergummi“. Doch wie kann man diesen nutzen? Bei Google finden sich Formulare, mit denen man die Löschung von URLs aus den Suchergebnissen beantragen kann. Man kann dafür sorgen, dass die Verlinkung in der Google-Trefferliste nicht mehr angezeigt wird. „Aus dem Internet verschwunden sind die unliebsamen Informationen damit allerdings noch nicht“, erklärt Hofmann. Seit dem 25. Mai 2018 gilt zudem europaweit Artikel 17 der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Damit findet das „Recht auf Vergessenwerden“ kodifizierten Einzug in das europäische Datenschutzrecht und bietet ein umfassendes Recht auf Löschung personenbezogener Daten. „Eine Ausnahme ist natürlich, wenn es um die Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung und Information geht“, sagt der Rechtswissenschaftler.

Achtung der Menschenwürde

Mit diesen Grenzen der freien Meinungsäußerung befasst sich Christian Schicha, Professor für Medienethik am Institut für Theater- und Medienwissenschaft der FAU. Die Medienethik an sich leistet einen systematischen Beitrag zur Beurteilung potenzieller Verfehlungen im Medienkontext und formuliert Regeln für verantwortliches Handeln in der Produktion, Distribution und Rezeption von Medien. „Wir gehen zum Beispiel der Frage nach, wie wünschenswertes, vertretbares und verantwortliches Medienhandeln aussieht“, erklärt Schicha. „Es geht um die Einhaltung der Menschenwürde und die Beachtung des Persönlichkeitsschutzes – in Texten, aber auch bei Bildern. Denn Bildmacht ist schon immer zentral.“

Für heftige öffentliche Diskussionen sorgte zum Beispiel im September 2015 das Foto des toten Flüchtlingsjungen Aylan Kurdi. Der Dreijährige lag am Strand von Bodrum – im roten T-Shirt, das Gesicht nach unten, die Arme verdreht – ertrunken auf der Flucht aus Syrien nach Europa. „Innerhalb von Stunden ging das Bild um die Welt“, erinnert sich der Medienethiker. „Die meisten Zeitungen und Fernsehsender zeigten das Foto – und im Internet verbreitete es sich ohnehin sehr schnell.“ Dürfen Medien derartige Bilder zeigen? Oder müssen sie das sogar, um das Versagen der europäischen Flüchtlingspolitik deutlich zu machen? Brauchen Menschen solche Fotos, um das Problem zu begreifen? Fragen über Fragen, mit denen sich nicht nur die Medienethik beschäftigt, sondern auch der Deutsche Presserat.

Bei ihm wurden 19 Beschwerden wegen der Veröffentlichung des Bildes eingereicht. „Unbegründet“, wie der Deutsche Presserat urteilte. Denn das Foto sei ein „Dokument der Zeitgeschichte“ und stehe „symbolisch für das Leid und die Gefahren, denen sich die Flüchtlinge auf ihrem beschwerlichen Weg nach Europa aussetzen“. Die Aufnahmen des Kindes seien „nicht unangemessen sensationell und nicht entwürdigend“, das Gesicht des Kindes sei nicht direkt zu erkennen. „Seine Persönlichkeitsrechte werden nicht verletzt“, so der Presserat. Zudem hatte der Vater von Aylan die Veröffentlichung des Fotos gutgeheißen. Gegenüber einer Zeitung erklärte er: „Es war richtig, dass die Medien das Foto gezeigt haben. Die Menschen dürfen nicht wegsehen, was Schreckliches passiert auf dem Weg nach Europa.“

Ganz anders urteilte der Deutsche Presserat im Jahr 2010 über die Veröffentlichung von Fotos der Toten bei der „Loveparade“ in Duisburg. Hier gingen 241 Beschwerden beim Presserat ein, es ging vor allem um die Darstellung der Massenpanik in Fotostrecken und Videos sowie die Darstellung der Opfer. Der Presserat sprach eine öffentliche Rüge sowie fünf Missbilligungen und drei Hinweise aus. Die Rüge erhielt die Bild-Zeitung für die Darstellung eines Einzelschicksals, in der die Redaktion ein unverpixeltes Foto eines Opfers veröffentlichte und dazu Details der Todesumstände beschrieb. Darüber hinaus seien in verschiedenen Zeitungen und Online-Portalen die Opfer mit Foto dargestellt worden – zum Teil sogar mit Vornamen und Details aus ihrem Leben. Der Presserat sah darin einen Verstoß gegen die Privatsphäre der Opfer.

„Beide Fälle zeigen deutlich ein typisches Spannungsfeld der Medienethik“, sagt Prof. Dr. Christian Schicha. „Auf der einen Seite gibt es das Informationsinteresse der Öffentlichkeit, auf der anderen Seite das Persönlichkeitsrecht, das die Intimsphäre, die Geheimsphäre und die Privatsphäre von Personen schützt.“

Digitales Erbe

Um den Schutz der Privatsphäre ging es auch in einem aktuellen Fall vor dem Bundesgerichtshof in Karlsruhe. Am 12. Juli 2018 entschied das Gericht in letzter Instanz, dass Facebook den Eltern eines toten Mädchens – als dessen Erben – Zugang zu dem seit fünfeinhalb Jahren gesperrten Nutzerkonto ihrer Tochter gewähren muss. Die Richter hoben damit ein Urteil des Berliner Kammergerichts auf, das die bisherige Sperre unter Verweis auf das Fernmeldegeheimnis bestätigt hatte. Doch weil auch Briefe und Tagebücher an die Erben übergehen, sah der Bundesgerichtshof in seiner Urteilsverkündung keinen Grund, digitale Inhalte anders zu behandeln. Ein weiterer Teilbereich des digitalen Zeitalters ist damit rechtlich geklärt.


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Dieser Artikel erschien zuerst in unserem Forschungsmagazin friedrich. Die aktuelle Ausgabe beschäftigt sich mit dem Thema Ende in all seinen Formen: Welche davon sind unausweichlich? Wie setzen sich Menschen damit auseinander? Und was bedeuten sie für den einzelnen? Und ist das, was Menschen als Ende definieren wirklich der Schlusspunkt? Manchmal verändern sich Dinge nur, entwickeln sich weiter, es entsteht etwas Neues. Mitunter ist das Ende aber auch gar kein Thema: Der Mensch strebt nach Unendlichkeit. Können wir diesen Begriff überhaupt verstehen? Ist Innovation unendlich? Und leben wir unendlich weiter – im Internet?

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