Mit Eisbrechern auf der Ostsee fing alles an

Prof. Dr. Sannakaisa Virtanen, Lehrstuhl für Werkstoffwissenschaften (Korrosion und Oberflächentechnik). (Bild: Giulia Iannicelli/FAU)
Prof. Dr. Sannakaisa Virtanen, Lehrstuhl für Werkstoffwissenschaften (Korrosion und Oberflächentechnik). (Bild: Giulia Iannicelli/FAU)

Wir präsentieren in einer Folge von 22 Beiträgen ein Panorama an FAU-Wissenschaftlerinnen verschiedener Qualifikationsstufen und akademischer Positionen, von der Studentin bis zur W3-Professorin. Als Role Models motivieren die Forscherinnen aus dem MINT-Bereich durch ihre individuellen Werdegänge Nachwuchswissenschaftlerinnen für eine akademische Laufbahn, denn sie geben interessante Einblicke in ihren beruflichen Werdegang. Dabei lernen wir die MINT-Expertinnen auch von ihrer privaten Seite kennen.

Professorin Sannakaisa Virtanen: Mit Eisbrechern auf der Ostsee fing alles an

Prof. Dr. Sannakaisa Virtanen befasst sich im Bereich der Werkstoffwissenschaften mit Korrosion und Oberflächentechnik. Die gebürtige Finnin und Wahl-Erlangerin fungierte bis 2016 sechs Jahre lang als Frauenbeauftragte der FAU und hat seitdem viele Nachwuchswissenschaftlerinnen unterstützt und gefördert. Sie selbst kommt aus einem Kulturkreis, in dem es schon früh selbstverständlich war, dass auch Frauen MINT-Berufe ergreifen.

Als Kind hat Sannakaisa Virtanen es geliebt, ihrem Vater handwerklich zu helfen – und der nahm das technische Interesse seiner Tochter ernst. 1960 geboren, wuchs sie in einem Ort nahe Helsinki auf und wusste schon sehr früh, dass ihr Herz für naturwissenschaftliche Fächer wie Chemie und Physik schlägt: „Ich war als Kind neugierig zu erfahren, woraus eine Batterie besteht und wie sie eine Taschenlampe zum Leuchten bringt!“ Doch auch die Sprachen hatten es ihr angetan und so kam sie 1977 erstmals nach Deutschland, genauer gesagt nach Franken. Damals besuchte die Austauschschülerin auch Nürnberg, ohne zu ahnen, dass es sie eines Tages an die FAU verschlagen würde.

„Korrosion ist viel mehr als nur rosten!“

Nach dem Abitur studierte sie Werkstoffwissenschaften an der Technischen Universität in Helsinki. Und schon da lag ihr Augenmerk auf dem Thema Korrosion: „In meiner Abschlussarbeit habe ich untersucht, wie Eisbrecher rosten, die im Winter in der finnischen Ostsee eingesetzt werden.“ Und sofort stellt sie klar: „Korrosion ist viel mehr als nur rosten! Korrosion findet überall statt, wo metallische Werkstoffe eingesetzt werden und kann verschiedenste negative Folgen haben, etwa auch die Gesundheit gefährden, wenn es sich um die Korrosion von biomedizinischen Implantaten handelt.“ So hat sich die Forschung der Finnin schon auf Autos, Turbinenschaufeln und Flugzeuge bezogen, aber auch auf Hüftimplantate und Stents. „Meine Arbeit zielt darauf ab, die Kosten zu senken, die etwa durch vorzeitiges Versagen von Konstruktionen entstehen; auch sollen Risiken für die Sicherheit und Gesundheit vermieden werden.“ Ziel ihrer Forschung ist es, Werkstoffe beständiger und langlebiger zu machen: „Das ist praxisrelevant und hat sehr viel mit dem normalen Leben zu tun.“

Prof. Dr. Sannakaisa Virtanen, Lehrstuhl für Werkstoffwissenschaften (Korrosion und Oberflächentechnik). (Bild: Giulia Iannicelli/FAU)

Von Finnland aus in die Männerwelt der ETH Zürich

Kaum hatte Sannakaisa Virtanen Mitte der 1980er Jahre ihr Ingenieur-Diplom in der Hand, zog es sie ins europäische Ausland – in ein englisch- oder deutschsprachiges Land, weil sie diese beiden Sprachen in der Schule gelernt hatte. Ihr Professor in Helsinki vermittelte sie damals in die Schweiz zu einem befreundeten Unternehmer. „Ich hatte ja keine Ahnung, dass dort Schwyzerdütsch gesprochen wird!“, lacht sie. Doch ihr Aufenthalt in dem Alpenstaat hielt so manche weitere Überraschung für sie bereit. War sie zunächst in dem industriellen Betrieb tätig, eröffnete man ihr rasch die Möglichkeit, an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH) zu promovieren. In ihrem Fach war sie dort eine der ersten Doktorandinnen – und fühlte sich anfangs von einigen im Institut kritisch beäugt. Auch hörte sie immer mal wieder zwischen den Zeilen heraus, dass männliche Kollegen positiv über eine klassische Rollenverteilung sprachen. „Ich bin keine Frauenrechtskämpferin, aber dieses traditionelle Frauenbild, das damals in der Schweiz herrschte, hatte mich doch überrascht.“ Auch wenn sie sich anfangs als einzige junge, fremdsprachige Wissenschaftlerin in einer Gruppe von wesentlich älteren, erfahrenen, männlichen Koryphäen unsicher fühlte, lernte sie rasch, bei Konferenzen oder Projektbesprechungen selbstbewusst mitzudiskutieren: „Ich habe mir gesagt, dass ich hier bin, weil ich etwas beizutragen habe, nämlich über meine Forschungsergebnisse zu berichten – und diese Chance will ich nutzen!“

Nach ihrer Promotion über hochkorrosionsbeständige metallische Gläser, die sie in dreieinhalb Jahren durchzog, blieb sie zunächst noch als Oberassistentin und später als Assistenzprofessorin an der ETH. „Plötzlich haben sich weitere Möglichkeiten aufgetan, und zwar Forschungsaufenthalte in den USA und in Kanada“, schildert Virtanen. Am Ende dieser Zeit war ihr jedoch bewusst: „Ich wollte zurück nach Europa, weil mir der Wissenschaftsbetrieb und die Lebensweise dort besser gefallen.“ Doch für ihr Fachgebiet gab es nicht viele Arbeitsplätze. Zwar war die Forscherin seinerzeit zur Mobilität bereit, wollte aber endlich eine feste Stelle haben: „Die Unsicherheit, ob und wo es den nächsten Job gibt nach den vielen befristeten Verträgen, das wurde mit der Zeit belastend.“

„Auch das Glück hat bei mir immer eine Rolle gespielt“

Und hier kam die FAU ins Spiel, wo genau in ihrem Bereich eine Professur zu besetzen war. Sie bewarb sich – und wurde genommen: „In Erlangen habe ich meine erste Lebenszeit-Stelle bekommen!“ – sprich einen Ruf im Jahr 2003. „In den Werkstoffwissenschaften gehört die FAU zu den führenden Instituten in Deutschland und ist auch international bestens bekannt“, so Virtanen. Sie beschreibt es als Glück, das bei ihr immer eine gewisse Rolle gespielt habe. Vieles ergab sich für sie, ohne dass sie es geplant hatte. Und hier sieht sie einen Unterschied zur Gegenwart: „Die jungen Wissenschaftlerinnen sind heute sehr fokussiert und treffen viel bewusstere Entscheidungen; es gibt aber auch viel mehr Informationen, als zu meiner Zeit. Ich sage den jungen Frauen oft: Es gibt nicht nur einen richtigen Karriereweg. Vieles ist eben nicht planbar. Man muss auch flexibel bleiben.“

Erlangen ist für Virtanen fachlich genau der richtige Ort und hat darüber hinaus „fast alles, was man braucht, vor allem Lebensqualität“. Die FAU bietet aus ihrer Sicht eine exzellente Forschungsinfrastruktur. „Die Nähe der Ingenieurwissenschaften zu Naturwissenschaften ist für mein Forschungsgebiet sehr wichtig. An der FAU gibt es viele Möglichkeiten zur fachübergreifenden Zusammenarbeit.“

„Mehr Toleranz für unübliche Karrierewege“

Als Sannakaisa Virtanen 2011 Frauenbeauftragte wurde, galt es bereits, verstärkt Professorinnen zu gewinnen und den Frauen an der Uni die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu erleichtern, etwa durch das Schaffen von Kinderbetreuung. Damals wurde ARIADNE, das Karriere- und Mentoring-Programm für Nachwuchswissenschaftlerinnen an der FAU, immer weiter ausgebaut und vermehrt genutzt. Um heute mehr Professorinnen für MINT-Fächer zu generieren, könnten aus Sicht der ehemaligen Frauenbeauftragten die Stellenausschreibungen etwas offener formuliert sein, „um überhaupt aus dem immer noch kleinen Pool von Kandidatinnen Bewerbungen zu bekommen. Denn je spezifischer das Thema formuliert ist, desto kleiner ist die Wahrscheinlichkeit, dass gerade auch Forscherinnen sich diesem Thema widmen.“ Auch meint Virtanen: „In Berufungskommissionen sollten wir eine gewisse Toleranz für unübliche Karrierewege haben, die beispielsweise durch familiäre Situationen bedingt sein können.“ Wobei es natürlich problematisch sei, nach dem Privatleben im Detail oder überhaupt zu fragen. Auch könne man gezielt auf Frauen zugehen: „Headhunting kann helfen, um Frauen zu identifizieren, die für eine Stelle infrage kommen. Allerdings ist es wichtig, tatsächlich nur solche anzufragen, die auch eine echte Chance auf eine erfolgreiche Bewerbung haben.“

Dieser Artikel ist Teil der Broschüre “The Sky is the Limit”

Titelbild The Sky is the Limit
Broschüre “The Sky is the Limit”

Facettenreich, inspirierend und innovativ werden in der Broschüre “The Sky is the Limit”  MINT-Wissenschaftlerinnen aus der Technischen und Naturwissenschaftlichen Fakultät der FAU in abwechslungsreichen Interviews vorgestellt.

Weitere veröffentlichte Interviews können Sie online auf der Seite Research nachlesen.

Broschüre “The Sky is the Limit — MINT-Wissenschaftlerinnen an der FAU” zum Download

Die Publikation entstand im Rahmen einer Kooperation zwischen dem GRK 2423 FRASCAL und dem Büro für Gender und Diversity. Die Interviews führte Dr. Susanne Stemmler.