Wen kümmert´s?

Frau im Wartezimmer, die einen Zeitung mit ARtikel über Medizin in der dritten Welt liest
Um die Corona-Pandemie global zu bekämpfen, ist es nötig, ärmere Länder bei der nachhaltigen Entwicklung zu unterstützen – von der Ausbildung von Fachpersonal bis hin zum Bau von Produktionsstätten für Impfstoffe. (Bild: Foto: Uwe Niklas; Heftseite (Collage): shutterstock.com/Yaw Niel (oben), shutterstock.com/Chan2545 (Mitte), stock.adobe.com/Riccardo Niels Mayer (unten)

Die Corona-Pandemie hat die Menschheit unvorbereitet getroffen und ihre Schwächen gnadenlos aufgedeckt.

„Wir haben den Wissenschaftstest bestanden. Aber in Ethik sind wir durchgefallen.“ Mit nachdrücklichen Worten beschrieb UN-Generalsekretär António Guterres im September 2021 bei der 76. Generaldebatte der UN-Vollversammlung den Kampf gegen die Corona-Pandemie. „Anstelle von Demut angesichts dieser epischen Herausforderungen sehen wir Anmaßung. Anstelle des Wegs der Solidarität, sind wir in einer Sackgasse der Zerstörung.“

Die dringliche Botschaft des UN-Chefs: „Wir stehen am Rande des Abgrunds und bewegen uns in die falsche Richtung. Unsere Welt war noch nie in größerer Gefahr und noch nie gespaltener.“ „Selbst wenn wir die unmittelbare medizinische Bedrohung ausklammern, steht Corona noch immer für eine beispiellose politische Krise der Welt“, erklärt Prof. Dr. Andreas Frewer.

Strukturelle Gewalt gegen ethische Prinzipen

Für Frewer, Arzt und Professor für Ethik der Medizin an der FAU, ist die Covid-19-Pandemie ein Lehrstück in Sachen Nachhaltigkeit, leider ein eher negatives. Grundprinzipien wie das der sozialen Gerechtigkeit und der Rücksicht auf die Bedürfnisse der Ärmsten und Schwächsten würden nicht ausreichend beachtet.

Die Forschung habe nach Beginn der Pandemie Großes geleistet und innerhalb kürzester Zeit mehrere wirksame Impfstoffe entwickelt, betont Frewer. Doch schon lange, bevor die ersten Notzulassungen für Vakzine gegen das Coronavirus erteilt wurden, war die viel beschworene Solidarität mit den Schwächeren und Ärmeren auf der Welt vergessen. Die Industrieländer fuhren die Ellbogen aus und sicherten sich Hunderte Millionen Dosen potenzieller Impfstoffe. Entwicklungs- und Schwellenländer hatten das Nachsehen.

Reiche Industrieländer rüpeln sich nach vorn

Auch dafür fand UN-Chef Guterres in seiner Rede deutliche Worte: Als „Obszönität“ bezeichnete er die ungleiche Verteilung von Impfstoff gegen das Coronavirus.

Schon im April 2020 hatte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Covax-Initiative ins Leben gerufen. Covax steht für „Covid-19 Vaccines Global Access“ und hat zum Ziel, Ländern unabhängig von ihrer Kaufkraft bestmöglichen Zugang zu Impfstoffen gegen Covid-19 zu bieten.

Die Idee: Alle Staaten der Welt sollen in einen gemeinsamen Fonds einzahlen. Mit diesem Geld soll dann gebündelt Impfstoff für alle eingekauft werden, sodass die Reicheren für die Ärmeren mitzahlen und die Vakzine gerecht nach Priorisierung verteilt werden. Doch trotz großer Spenden – unter anderem von den USA und der EU – ist die Welt von einer gerechten Verteilung des Impfstoffes noch weit entfernt.

Während die Mehrheit in den Industrienationen geimpft ist, warten die Menschen in den ärmeren Ländern, wo etwa zwei Drittel der Weltbevölkerung leben, auf die schützende Injektion. Dort liegt die Impfquote bei unter fünf Prozent, die Zahl der Corona-Toten hingegen in den Hunderttausenden.

Globale Lösungen sind einziger Ausweg

Doch als Einwohner/-in eines Industrielandes aus Solidarität mit den Ärmeren auf die dritte Impfung zu verzichten, hält Andreas Frewer auch nicht für sinnvoll. Strukturen und Ressourcen zum Testen und Impfen zu schaffen, sei eine Aufgabe der Politik und damit ein nationales, eigentlich sogar globales strukturelles und ethisches Thema. Der beziehungsweise die Einzelne kann hier wenig tun.

Dieses Problem sei auch nur auf internationaler Ebene lösbar, mahnt Frewer: „Die Vereinten Nationen müssen die Politik so weit aufrütteln, dass noch mehr Maßnahmen umgesetzt werden, die Pandemie als globale Krise zu begreifen und sie auch so zu bekämpfen – im Interesse der globalen Gerechtigkeit.“ Und im medizinischen Interesse.

Schließlich können sich dort, wo die Pandemie nur mit unzureichenden Mitteln oder gar nicht bekämpft wird, gefährliche Mutanten bilden, die sich, wie wir in den vergangenen Monaten beobachten konnten, schnell über den ganzen Globus ausbreiten können.

Nebenschauplatz Propagandakrieg

„Nationale Strategien sind deshalb schlichtweg kurzsichtig“, konstatiert Frewer. „Entweder die Politik investiert in die Rettung von Leben, indem sie die Ursache der Pandemie überall und jetzt behandelt, oder sie gibt langfristig Billionen für die Folgen aus, ohne dass ein Ende in Sicht ist.“

Mit dem Denken innerhalb von Landesgrenzen habe auch ein anderes Phänomen wieder Aufwind erfahren: der Nationalismus. Zum Beispiel, als der frühere amerikanische Präsident Donald Trump den Begriff „China-Virus“ prägte und damit seine politische Agenda befeuerte, während die chinesische Regierung über ihre Staatsmedien teils die Bevölkerung glauben machte, dass ihnen die Covid-19-Pandemie von den USA aufgezwungen wurde.

Diskriminierend, aber leider typisch, meint Medizinhistoriker und Ethiker Frewer. Denn in der langen Geschichte der Krankheiten und ihrer Bezeichnungen finden sich viele solcher Nationalismen und Rassismen.

Sicherlich weniger absichtsvoll und dennoch diskriminierend fiel zu Beginn der Pandemie auch die Namenswahl für die Virusvarianten aus, die sich nach dem vermeintlichen Ursprungsland richtete. So wurde von einer „indischen Mutante“ oder initial einer „englischen Variante“ gesprochen, was den ohnehin vom Virus geschüttelten Ländern zusätzlich noch einen Imageschaden eintrug. Deshalb werden Mutanten inzwischen nicht mehr nach Ländern, sondern mit griechischen Buchstaben benannt. „Es bleibt nur zu hoffen, dass wir nicht zu schnell alle benötigen werden“, sagt Frewer.

Offener Zugang zu Wissen

Wie die Corona-Pandemie auf globaler Ebene tatsächlich bekämpft werden kann, darüber debattiert die Politik noch. Für manche ist klar, dass die Freigabe der Impfstoff-Patente ein wichtiger Schritt gegen den Impfstoffmangel ist. Offener Zugang zu medizinischem Wissen kann dazu beitragen, billige Generika für ärmere Länder zu produzieren, wo sich keiner die teuren Originalpräparate leisten kann. So hat der gezielte Bruch von Patenten, zum Beispiel in Brasilien und Indien, den Kampf gegen die dort grassierende HIV-Pandemie ein gewaltiges Stück vorangebracht.

Bei Covid-19 sei die Freigabe der Patente allerdings nur ein Teil der Lösung, erläutert Frewer. Die Formel zu kennen, reiche nicht aus, um den Impfstoff zu produzieren. Zur Herstellung der Corona-Vakzine muss auf einem qualitativ sehr hohen Niveau gearbeitet werden, um die Wirksamkeit des Impfstoffs zu garantieren.

Know-how-Export in Schwellenländer

Hier gelte es im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung, Kompetenzen und Kapazitäten zur Impfstoffherstellung dort aufzubauen, wo es sie bisher nicht oder nicht in ausreichendem Maße gibt – also in Afrika, Südamerika und den ärmeren Ländern Asiens Fachleute auszubilden und Fabriken zu bauen.

Auch an diesem Punkt sei die Politik gefragt, um Unternehmen – sowohl mit politischen als auch mit pekuniären Mitteln – zu überzeugen, dieser Strategie zu folgen. „Viele Unternehmen werben damit, zu einer besseren Welt beizutragen. Hier gibt es eine Chance, sich tatsächlich für das Wohl aller zu engagieren. Ihr Schaden wird es sicher nicht sein.“

Eines sei ganz sicher: „Es wird eine neue Corona-Mutation oder ein anderes Virus kommen, das uns fordert“, mahnt Andreas Frewer. „Dafür brauchen wir Infrastruktur weltweit und nicht nur in den Industrienationen.“ Deshalb sei es eminent wichtig für die Zukunft, Initiativen wie Covax zu unterstützen und gleichzeitig mehr in die allgemeine Pandemievorsorge zu investieren.

Die nächste Pandemie kommt bestimmt

Doch nicht nur Covid-19 und seine Mutationen müssen wir beobachten. Auch gute alte Bekannte dürfen wir nicht aus den Augen verlieren. Denn: „Im Kampf gegen Tuberkulose müssen wir gerade Rückschläge hinnehmen. Trotz guter Medikamente gibt es noch immer zu viele HIV-Tote. Außerdem flackert punktuell die Ebola-Epidemie wieder auf“, erinnert Professor Frewer.

„Außerdem müssen endlich die humanitären Katastrophen mehr Aufmerksamkeit erhalten!“ Die schon seit Jahrzehnten andauernde Armuts- und Hungerkrise auf der Welt scheint nämlich ganz und gar vergessen – obwohl sie durch Corona nochmals verschärft wurde und gleichzeitig einen guten Boden für die Ausbreitung von Seuchen bietet. Doch die internationalen Ausgaben für Entwicklungshilfe sinken seit Jahren.

„Es wird Zeit, dass endlich ein Umdenken beginnt“, fordert Frewer. Die Industrieländer müssten Verantwortung übernehmen, denn sie haben Macht und Mittel, etwas zu bewirken und mehr Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit herzustellen.

„Die Schere zwischen Arm und Reich geht in Zeiten der Krise immer weiter auseinander: Jene, die schon vor der Pandemie mit vielen Herausforderungen des Lebens kämpfen mussten, trifft die Krise besonders. Wir müssen denen helfen, die sich nicht selbst helfen können.“

Über die Autorin

Sandra Kurze ist PR-Frau und Wissenschaftskommunikatorin an der FAU. Sie schreibt über spuckende Karpfen, Zombie-Sterne und andere Phänomene, die die Wissenschaft bewegen.


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