Wanderung auf schmalem Grat

Wissenschaftlerin in Labor
Anna Ammon: Ein schmaler Grat zwischen dem Wohl der Tiere und besseren Chancen für die erfolgreiche Behandlung einer heimtückischen Krebserkrankung. Bild: FAU/Georg Pöhlein

Um Behandlungen für schwere Krankheiten wie Krebs und Alzheimer zu entwickeln, sind Tierversuche oft unverzichtbar

Der Weg zu den Mäusen ist Anna Ammon vom Universitätsklinikum Erlangen nie leichtgefallen. Einerseits will die Biologin nichts mehr als dabei zu helfen, eine Behandlung gegen Blutkrebs deutlich zu verbessern. Wenn alles klappt, könnten damit später etliche Menschen gerettet werden, die heute noch an dieser Krankheit sterben. Andererseits muss Anna Ammon dafür vorher Mäuse töten, an denen sie die Methode testet. Die Biologin wandert also auf einem schmalen Grat zwischen dem Wohl der Tiere und besseren Chancen für die erfolgreiche Behandlung einer heimtückischen Krebserkrankung.

Johanna Habermeyer in Labor
Dr. Johanna Habermeyer (Bild: privat)

Eine ganz ähnliche Gratwanderung steht Dr. Johanna Habermeyer bevor, die ebenfalls am Uni-Klinikum Erlangen forscht: Die Molekularmedizinerin hat sich zum Ziel gesetzt, die Behandlung von Alzheimer zu verbessern, der mit dem Gehirn auch die geistigen Fähigkeiten der Betroffenen zerstört. Und auch sie muss vor ersten Versuchen an Patientinnen und Patienten eine neue Kombinationstherapie an Tieren testen. Nur forscht sie nicht an Mäusen, sondern mit einer Linie von Ratten, die ähnlich wie Menschen an Alzheimer erkranken und die der Leiter des Präklinischen Experimentellen Tierzentrums (PETZ) der FAU, Prof. Dr. Stephan von Hörsten, und sein Team weiterentwickelt und charakterisiert haben.

Alle drei sind sich sicher, dass ihre Forschung vielen Patientinnen und Patienten helfen wird und die Therapien heimtückischer Krankheiten voranbringen kann. Und sie wollen dieses Wissen um die wichtige Rolle von Tierversuchen in der Forschung in die Öffentlichkeit tragen, weil nur so eine offene Diskussion über dieses – alles andere als einfache – Thema möglich ist. Damit stehen sie voll hinter der Zielsetzung der „Initiative Transparente Tierversuche“, zu der sich vor einem Jahr, am 1. Juli 2021, Forschungsorganisationen und andere Interessierte deutschlandweit zusammengeschlossen haben. Zur Initiative gehört auch der bereits 2015 gegründete gemeinnützige Verein „Pro-Test Deutschland“, in dem sich neben vielen anderen, meist jungen, Menschen auch Anna Ammon und Johanna Habermeyer engagieren. Auf Info-Ständen in den Fußgängerzonen von Uni-Städten wie Erlangen oder bei Streitgesprächen in den Medien erklären die jungen Leute am liebsten am Beispiel ihrer eigenen Arbeit, weshalb die Forschung auf Tierversuche im Moment nicht verzichten kann.

Am deutlichsten ist Anna Ammon das immer wieder im Rahmen ihrer eigenen Doktorarbeit bewusstgeworden, die sie gerade abschließt: Darin wollte sie die Grundlagen für die weitere Verbesserung einer heute schon effektiven Therapie für Blutkrebs schaffen. Bei dieser Behandlungsmethode werden Antikörper, die Tumorzellen zuverlässig erkennen, aber gesunde Körperzellen ignorieren, mit einem Zellgift gekoppelt. Sobald der Antikörper eine Tumorzelle aufgestöbert hat, wird diese vom anhängenden Toxin zerstört. Allerdings entkommen unter Umständen einzelne Tumorzellen dieser Therapie und entwickeln manchmal sogar Widerstandskräfte gegen das Gift. Weitere Versuche mit einer solchen Therapie sind dann meist zum Scheitern verurteilt.

anna ammon in Labor
Bild: FAU/Georg Pöhlein

Anna Ammon koppelt daher gleich zwei Toxine mit dem als Spürhund für Tumorzellen eingesetzten Antikörper. Beide wirken auf unterschiedlichen Wegen und sollten sich daher gegenseitig verstärken. Ob sie das auch wirklich tun und wie gut das Zusammenspiel zwischen beiden Giften funktioniert, testet die Biologin mit den Möglichkeiten der modernen Naturwissenschaften. Die erfolgversprechenden Kombinationen, die sich bereits in Zell-Linien bewährt haben, erprobt Anna Ammon dann in Mäusen, deren Immunsystem weitgehend ausgeschaltet ist. Diesen Tieren menschliche Blutkrebszellen in die Schwanzvene zu injizieren, fällt der jungen Wissenschaftlerin schwer. Denn sie weiß, dass diese Tumorzellen sich durchsetzen und schon nach wenigen Tagen 80 Prozent der Zellen im Knochenmark der Tiere stellen. Ähnlich wie Menschen, in denen solche Krebszellen oft sehr lange völlig unbemerkt wachsen, haben zwar auch diese Mäuse zunächst keine offensichtlichen Probleme. Am Ende aber würden sie an ihrer Krebserkrankung sterben. Lange bevor sie jedoch an der Erkrankung leiden, werden sie möglichst schonend getötet.

Auch wenn die Antikörper mit dem Gift-Duo in Zell-Linien ihre Wirksamkeit bewiesen haben, versagten etliche dieser Kombinationen dann dennoch in den Nagetieren – eine bedeutende Erkenntnis, denn: Hätte man auf Tierversuche verzichtet und diese Substanzen gleich an Krebspatientinnen und -patienten ausprobiert, hätten sich einige falsche Hoffnungen auf eine erfolgreiche Behandlung gemacht und wären wohl dennoch an ihrer Krankheit gestorben. Die Experimente mit den Mäusen retten also recht unmittelbar Menschenleben. Und am Ende ihrer Doktorarbeit konnte Anna Ammon sogar noch einen größeren Erfolg verbuchen: Sie hatte nicht nur herausgefunden, welche Kombinationen keine Wirkung zeigen, sondern sie hielt tatsächlich ein Doppelgift in Händen, das nicht nur in Zell-Linien, sondern auch in Mäusen sehr erfolgversprechend war. Nun muss dieses Toxin-Duo im letzten Schritt noch seine Wirksamkeit in Menschen unter Beweis stellen – die Tierversuche haben sich jedenfalls bereits als unverzichtbar erwiesen.

anna ammon in Labor
Bild: FAU/Georg Pöhlein

Das gleiche gilt, wenn auch aus einem völlig anderen Grund, für die Untersuchungen, mit denen die Forscherin Johanna Habermeyer gerade beginnt: Sie untersucht Wirkstoffe gegen die Alzheimer-Krankheit, die relativ häufig auftritt und das Gehirn der meist älteren Menschen nach und nach immer mehr zerstört. Als der Psychiater Alois Alzheimer diese Krankheit bei der Patientin Auguste Deter am Anfang des 20. Jahrhunderts entdeckte, beschrieb diese den zunehmenden Verlust ihrer geistigen Fähigkeiten mit dem Satz „Ich habe mich sozusagen selbst verloren“. Weil Patientinnen und Patienten mit dieser Krankheit grundlegende Fähigkeiten wie das Erkennen ihrer Partnerinnen und Partner verlieren und ihr Gedächtnis so schwach wird, dass sie selbst gut bekannte Dinge wie den Hausschlüssel oder den Briefkasten nicht mehr finden, fürchten sehr viele Menschen in Europa und Nordamerika Alzheimer sehr.

Da sich Auswirkungen auf komplexe Gehirnstrukturen und das von dort gesteuerte Verhalten weder in Zellkulturen noch in Computermodellen ausreichend untersuchen lassen, ist Johanna Habermeyer bei ihrer Forschung auf eine Ratten-Linie angewiesen, die ähnliche Symptome wie Alzheimer-Patientinnen und -Patienten entwickelt. Die Molekularmedizinerin möchte dabei das bereits bei Alzheimer-Erkrankungen eingesetzte Medikament Galantamin und den noch in der Erprobungsphase stehenden Wirkstoff Cotinin kombinieren. Für sich allein lindern diese Substanzen die Krankheit kaum und zögern sie nur vorübergehend ein wenig hinaus. Die Kombination aber könnte viel besser wirken. Ob diese Theorie auch den Praxistest besteht, will Johanna Habermeyer bei genau 128 Ratten mit Verhaltenstests untersuchen, die das Lern- und Erinnerungsvermögen unter die Lupe nehmen.

Vor Beginn an werden Tierversuche in einem aufwändigen Verfahren beantragt und geprüft. Dabei gilt der Grundsatz: so viele Tiere wie nötig, aber so wenige wie möglich. In Fachkreisen ist hier von den drei „R“ die Rede – Replace, Reduce, Refine. Die Devise: Tierversuche sollen möglichst vermieden, mindestens aber weniger Tiere verwendet und die geplanten Experimente optimiert werden. Daher beobachtet Johanna Habermeyer die Ratten im Verlauf des Versuchs natürlich intensiv, um zum Beispiel rasch auf eventuelle Nebenwirkungen reagieren zu können.

Stephan von Hörsten vor Computer
Prof. Dr. Stephan von Hörsten, Leiter des präklinisches Experimentelles Tierzentrum (PETZ). (Bild: privat)

Im Rahmen ihrer vielversprechenden Experimente begegnet Johanna Habermeyer Stephan von Hörsten gleich in mehrfacher Hinsicht: Schließlich ist er als Leiter des Präklinischen Experimentellen Tierzentrums der FAU nicht nur ihr Chef, sondern auch Vorsitzender des neu gegründeten Tierschutzausschusses der FAU und des Uni-Klinikums Erlangen. Dort begleitet er gemeinsam mit den verantwortlichen Leitungen der Tierhaltungen an den verschiedenen FAU-Instituten die Gratwanderung zwischen dem Wohl der Tiere und der wichtigen Forschung mit Tierversuchen. Und sorgt obendrein für die enge Verzahnung mit der „Initiative Transparente Tierversuche“. Denn nur so, davon sind alle Beteiligten überzeugt, lässt sich letztlich ihr Ziel erreichen:  das Leiden vieler Patientinnen und Patienten lindern – und gleichzeitig in der Öffentlichkeit über ihre Arbeit aufzuklären.

Wichtig ist ihnen dabei aber nicht nur, dass sie selbst verantwortungsvoll handeln und sich jederzeit im Klaren darüber sind, dass sie eben auf diesem schmalen Grat wandern. Für ihre Arbeit ist es unerlässlich, dass die FAU hinter ihnen steht – schließlich agieren sie nicht als Privatpersonen, sondern im wissenschaftlichen Auftrag, für den Universitäten und Forschungsinstitute das gesellschaftliche Mandat haben. An der FAU fühlen sie sich gut unterstützt – ist doch Vizepräsident Prof. Dr. Georg Schett – zuständig in der Universitätsleitung für Forschung – selbst Immunologe und weiß ganz genau um den Balanceakt, dem sie sich jeden Tag ausgesetzt sehen. „Forschung und Verantwortung gehören untrennbar zusammen“, erklärt Schett. „Nach Wissen und Erkenntnis streben, dieser Wunsch ist im Menschen angelegt. Zur Verantwortung müssen wir uns dagegen bewusst und aktiv bekennen. An der FAU ist uns diese Verpflichtung in allem, was wir tun, gegenwärtig.“ Anna Ammon, Johanna Habermeyer und Stephan von Hörsten können dies nur bestätigen.


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Alexander 119

In der aktuellen Ausgabe finden Sie Beiträge zu folgenden Themen: Wie Wissenschaft und Diplomatie zusammenspielen können, welche Wege mit der Wasserstofftechnologie LOHC gegangen werden sollen, einen Einblick in die abenteuerliche Donaufahrt der FAU-Römerboote, ein Interview mit dem Paralympicsathleten und Jura-Studenten Josia Topf sowie ein Porträt mit dem neuen Humboldt-Professoren Vincent C. Müller.

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