Bahn frei!

Illustration Bahnhof und U-Bahn
(Illustration: Jörg Hartmann)

Um den Klimawandel abwenden oder zumindest abmildern zu können, ist ein Umdenken angesagt! Neue Technologien werden benötigt, um Verkehrsmittel nachhaltiger zu gestalten. Daran forschen Wissenschaftler der FAU.

140 Tonnen wiegt ein Doppelzug der Nürnberger U-Bahn im Durchschnitt. Solch ein Schwergewicht muss erst einmal in Bewegung gesetzt werden – bis zu 7.500 Kilowatt „ziehen“ die Motoren aller gleichzeitig verkehrenden Züge aus dem Stromnetz. Solche Lastspitzen, wie sie der Fachmann nennt, sind teuer und machen bis zu 25 Prozent der gesamten Energiekosten aus. Und sie lassen sich vermeiden, zumindest reduzieren: Denn wenn ein Zug bremst, speist er Strom ins Netz zurück. Diese Rekuperation, die auch in Elektroautos zum Einsatz kommt, verpufft jedoch, wenn die Energie gerade nicht von einem anderen Zug benötigt wird.

Optimierter U-Bahn-Betrieb

Optimal wäre es also, wenn möglichst wenige Züge gleichzeitig anfahren und idealerweise ein Zug immer dann beschleunigt, wenn ein anderer bremst. Daran, diesem Idealfall näher zu kommen, arbeiten Wissenschaftler des Lehrstuhls für Angewandte Mathematik (Gemischt-ganzzahlige lineare und nichtlineare Optimierung) von Prof. Dr. Alexander Martin seit vier Jahren im Projekt „Fahrassistenzsysteme im Schienenverkehr“. Gemeinsam mit der VAG Verkehrs-Aktiengesellschaft Nürnberg, die das U-Bahn-Netz betreibt, und dem Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen IIS wollen die Forscher herausfinden, wie sich hohe Lastspitzen durch Anpassungen der Fahrpläne vermeiden lassen. Bedingung dabei: Die Abfahrtszeiten sollen sich um maximal 15 Sekunden verschieben dürfen – schließlich wollen die Fahrgäste weiterhin pünktlich an ihr Ziel kommen. Dass einem der Taschenrechner hier nicht viel nutzt, erschließt sich auch dem Laien. „Das Nürnberger U-Bahn-Netz hat drei Linien und 50 Stationen“, sagt Dr. Andreas Bärmann, der das Projekt an der FAU leitet. „Insgesamt sind pro Tag 24.000 Abfahrtszeiten festzulegen. In Kombination mit jeweils 21 wählbaren Verschiebungen und Geschwindigkeitsprofilen der Züge ergibt das etwa 1031.733 mögliche Fahrpläne.“ Auch der routinierteste Planer hat also keine Chance, alle denkbaren Pläne manuell zu bewerten und den mit dem größten Energiesparpotenzial zu ermitteln. Ziel des Projektes ist daher die Entwicklung effizienter algorithmischer Lösungsverfahren für die von der VAG gestellte Aufgabe. Bärmann und die Doktoranden Patrick Gemander,Lukas Hager und Oskar Schneider entwickeln für die Fahrplaner der VAG eine Software zur Entscheidungsunterstützung, mit wertvoller Unterstützung von ihrem Mentor Prof. Alexander Martin. Diese Software funktioniert nach dem Prinzip der ganzzahligen Optimierung.

Illustration U-Bahn
Mathematiker der FAU optimieren die Fahrpläne der Nürnberger U-Bahn, um Lastspitzen zu vermeiden. (Illustration: Jörg Hartmann)

Die Menge aller theoretisch umsetzbaren Fahrpläne wird zunächst als Punktwolke in einem hochdimensionalen Koordinatensystem dargestellt. Der Vorteil: Die Lage der Punkte im abstrakten Raum gibt unmittelbar an, welche Fahrpläne tendenziell energieeffizienter sind als andere. Durch geschicktes schrittweises Einschränken der Menge aller möglichen Lösungen anhand ihrer geometrischen Eigenschaften reduziert der Algorithmus die Zahl der zu betrachtenden Fahrpläne immer weiter – so lange, bis schließlich der mathematisch beweisbar beste Fahrplan übrig bleibt.

Bevor sie ihre Berechnungen starten konnten, mussten die Forscher erst einmal detailliertes Fachwissen darüber erlangen, wie der Bahnbetrieb eigentlich funktioniert: Welche Zugkraft haben die Motoren und wie groß ist die Stromaufnahme? Wie viel Zeit benötigen die Passagiere, um sicher ein- und auszusteigen? Wie lange dauert das Wenden der Züge an den Endstationen? Wie muss der Sicherheitsabstand zwischen den Zügen bemessen sein? All diese Parameter wurden in das System übertragen, um valide Ergebnisse zu bekommen. Und die Arbeit lohnt sich: Bis zu 40 Prozent des bezogenen Stroms können unter optimalen Bedingungen wieder eingespeist und auch genutzt werden. Ausrollen kostet wenig Zeit und spart viel Energie Die neu getakteten Fahrpläne sind nur ein Ansatz zum Energiesparen.

Wasserstoff- statt Diesellok

Großes Potenzial bergen auch die Geschwindigkeitsprofile der Züge. Hier haben die Mathematiker berechnet, welchen Vorteil es bringt, die Züge erstens nicht auf die volle Endgeschwindigkeit zu beschleunigen und zweitens eher ausrollen zu lassen. „Jeder kennt das vom Autofahren“, verdeutlicht Patrick Gemander. „Man geht vom Gas und lässt sich auf eine rote Ampel oder den Ortseingang zurollen. Das spart Kraftstoff, und Zeit verliert man dadurch so gut wie keine.“ Bei Zügen ist die Wirkung noch viel größer, weil zwischen Rädern und Schiene eine sehr geringe Reibung herrscht und eine deutlich größere Masse gesteuert wird. Das erstaunliche Ergebnis der Simulation: Beschleunigt die U-Bahn auf nur noch 75 statt 80 Kilometer pro Stunde und rollt dann bis zur nächsten Station, braucht sie für eine Strecke von 1000 Metern im Schnitt gerade einmal drei Sekunden länger – verbraucht aber bis zu ein Drittel weniger Energie. Um 15 Sekunden verschobene Abfahrtszeiten, drei Sekunden längere Fahrten zwischen zwei Stationen – davon merken die Fahrgäste wenig. Der Vorteil aber ist gewaltig: Bis zu zehn Prozent weniger Energie würde die Nürnberger U-Bahn brauchen, die VAG könnte so einen sechsstelligen Eurobetrag im Jahr einsparen. In einem nächsten Schritt will das FAU-Team gemeinsam mit dem Fraunhofer IIS intelligente Algorithmen entwickeln, welche die Zugfahrten in Echtzeit steuern und in der Lage sind, auf Störungen im Ablauf zu reagieren. Die Nürnberger U-Bahn ist für ein solches Pilotprojekt besonders prädestiniert, weil hier bereits computergesteuerte, fahrerlose Züge im Einsatz sind. Das vielversprechende Projekt wurde am 12. Oktober 2020 mit dem Innovationspreis „Intelligenz für Verkehr und Logistik“ des Centers for Transportation and Logistics Neuer Adler e. V. (CNA) ausgezeichnet.

Illustration wasserstoff-betriebener Zug
(Illustration: Jörg Hartmann)

Die Rückführung von Bremsenergie ins Leitungsnetz funktioniert jedoch nicht überall, denn fast die Hälfte des Schienennetzes in Deutschland ist nicht elektrifiziert. Dass es in absehbarer Zeit über jedem Gleis eine Oberleitung geben wird, ist unrealistisch – zu teuer und zu aufwendig wäre eine umfassende Elektrifizierung. Damit der Bahntransport künftig unabhängig von fossilen Energieträgern wird, suchen Forschende nach Alternativen zum Dieselantrieb. Eine besonders vielversprechende ist Wasserstoff – idealerweise solcher, der aus regenerativen Quellen stammt und somit CO2-neutral ist. Bezogen auf sein Gewicht ist Wasserstoff fast dreimal so energiereich wie Benzin, er kann direkt verbrannt oder in Brennstoffzellen zu elektrischem Strom gewandelt werden. Doch seine Handhabung ist nicht unproblematisch: „Wasserstoff ist explosiv und wird für die Speicherung und den Transport entweder auf Temperaturen von unter -253°C gekühlt oder unter hohem Druck von bis zu 700 bar komprimiert“, erklärt Dr. Patrick Preuster, Projektkoordinator am Helmholtz-Institut Erlangen-Nürnberg für Erneuerbare Energien (HI ERN). „Will man Wasserstoff unter diesen Voraussetzungen flächendeckend bereitstellen, müsste eine aufwendige und sehr teure Infrastruktur neu geschaffen werden.“

Trägeröl als flüssige Pfandflasche

Die Lösung für dieses Problem könnte die LOHC-Technologie sein. Das Verfahren wurde am Lehrstuhl für Chemische Reaktionstechnik der FAU unter der Leitung von Prof. Dr. Peter Wasserscheid weiterentwickelt: Dabei dient Dibenzyltoluol, ein Wärmeträgeröl aus der Gruppe der aromatischen Kohlenwasserstoffe, als organische Trägerflüssigkeit. Bei der Beladung heftet sich der Wasserstoff, der zuvor in einem katalytischen Prozess in einzelne Atome zerlegt wurde, an die Doppelbindungen des Kohlenstoffs. Ein einziger Liter LOHC – das Kürzel steht für Liquid Organic Hydrogen Carrier – kann über 650 Liter Wasserstoff binden und bei Bedarf wieder abgeben. Der Vorgang kann mehrere tausend Mal wiederholt werden, bevor das Trägeröl wiederaufbereitet werden muss. LOHC kann jedoch nicht nur mit einer großen Menge Wasserstoff beladen werden, die Trägerflüssigkeit ist auch einfach zu handhaben, weil sie nicht als Gefahrstoff klassifiziert ist. Aufgrund ihrer physikalischen Eigenschaften kann sie genauso transportiert werden wie herkömmliche Kraftstoffe auch – mit Tanklastern, -zügen oder Pipelines. Auf diese Weise könnten Tankstellen an Bahnhöfen beliefert werden, die das LOHC dehydrieren – das heißt, den gebundenen Wasserstoff mithilfe eines Katalysators wieder freisetzen. Damit könnten dann Züge wie der Coradia iLint der Firma Alstom betankt werden, der 2018 als weltweit erster Personenzug mit Brennstoffzellenantrieb in den Linienbetrieb gegangen ist.

LOHC direkt auf den Zug

Auch wenn es sich hierbei noch um Pilotprojekte handelt, denken die Wissenschaftler schon einen Schritt weiter: „Unser Ziel ist es, den Zug direkt mit LOHC zu betanken“, sagt Patrick Preuster. „Der Wasserstoff wird dann im Fahrbetrieb freigesetzt und in einer Brennstoffzelle verstromt.“ Am HI ERN wird daran gearbeitet, die Apparate für die katalytische Freisetzung des Wasserstoffs an den mobilen Einsatz anzupassen. Dabei geht es nicht nur darum, die Technik kleiner und leichter zu machen, sondern sie auch für dynamische Lastwechsel zu optimieren. So soll garantiert werden, dass immer genügend Wasserstoff zur Verfügung steht – selbst beim Anfahren und an Steigungen, die besonders viel Leistung erfordern. 2022 sollen diese Anpassungen so weit fortgeschritten sein, dass die Technologie in einem Demonstrationsprojekt getestet werden kann. „Wir werden einen Nahverkehrszug mit zwei Brennstoffzellen ausstatten, die jeweils 200 Kilowatt leisten“, sagt Preuster. „Das entspricht ungefähr der Leistung von vier Toyota Mirai.“ Die aktuell größte Hürde ist die hohe Temperatur von 250 bis 300 Grad, die für die Dehydrierung des LOHC erforderlich ist. Preuster: „Dafür muss ein Teil des Wasserstoffs verbrannt werden. Das erschwert es uns einerseits, die Technik für den mobilen Betrieb zu miniaturisieren, und andererseits ist das für die Energiebilanz natürlich auch ungünstig.“ Das Team um Patrick Preuster arbeitet an gleich zwei Strategien, dieses Problem zu lösen: Zum einen sollen Dehydriereinheiten entwickelt werden, die bei deutlich niedrigerer Temperatur arbeiten. Der zweite Ansatz ist nochmals revolutionärer: eine Brennstoffzelle, die elektrische Energie direkt aus beladenem LOHC erzeugt. Eine zusätzliche Anlage zur katalytischen Freisetzung des Wasserstoffs an Bord des Zuges würde dann entfallen. „Wasserstoff schließt die Lücke zwischen regenerativ erzeugtem Strom und dem Antrieb schwerer Fahrzeuge“, erklärt Preuster. „Und LOHC ist der ideale Träger, um Wasserstoff gefahrlos und unter Nutzung der herkömmlichen Infrastruktur an sein Ziel zu bringen.“

Über den Autor

Matthias Münch studierte Soziologie und arbeitete als freier Journalist bei verschiedenen Tageszeitungen. Seit 2001 unterstützt er Unternehmen und wissenschaftliche Einrichtungen bei der Öffentlichkeitsarbeit und Corporate Communication.


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