Wie erforscht man Paralleljustiz?

Zwei Männer mit Hemden im Schlossgarten in Erlangen.
Prof. Dr. Mathias Rohe, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung an der FAU und Direktor EZIRE, und Dr. Hatem Elliesie, FAU-Nachwuchsgruppenleiter. (Bild: FAU/Boris Mijat)

FAU-Rechtswissenschaftler untersuchen Milieus in denen Paralleljustiz praktiziert wird

In mehreren Studien haben die FAU-Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Mathias Rohe und Dr. Hatem Elliesie sogenannte “Paralleljustiz” und “Clankriminalität” untersucht. Im Interview sprechen sie darüber, wie man diese Themen erforscht, mit welchen Expertinnen und Experten sie gesprochen haben und wie es mit ihrer Forschung weitergeht.

Herr Elliesie, Herr Rohe, Sie haben beide jüngst auf einer Pressekonferenz im Ministerium für Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen Ihre jeweiligen Teilstudien zum „Lagebild Paralleljustiz“ der dortigen Landesregierung vorgestellt. Um was ging es in Ihren Studien?

Prof. Dr. Mathias Rohe: Gegenstand der von mir erstellten Studie im Auftrag des Landes Nordrhein-Westfalens waren familienrechtsrelevante Probleme im Zusammenhang mit außergerichtlicher Konfliktbeilegung außerhalb des geltenden rechtlichen Rahmens („Paralleljustiz“). Hierzu habe ich Gerichtsakten ausgewertet und über 100 anonymisierte Expert:inneninterviews unter anderem mit Expertinnen und Experten aus der Jugendgerichtshilfe, Anwaltschaft, Mediation, Polizei, Frauenhäusern, Bereichen der Verwaltung, Soziale und Integration geführt. In diese Studie sind zudem auch übertragbare Erkenntnisse meiner vorherigen Studien zur „Paralleljustiz“ in den Bundesländern Berlin und Baden-Württemberg eingeflossen.

Dr. Hatem Elliesie: Die von mir mit meiner Kollegin Clara Rigoni durchgeführte Studie beschäftigt sich mit der sogenannten Paralleljustiz aus strafrechtlicher Sicht in Nordrhein-Westfalen. In dieser Studie haben wir uns damit auseinandergesetzt, was Beschäftigte der Justiz und der Ermittlungsbehörden über das Phänomen „Paralleljustiz“ wissen, wie sie es wahrnehmen und wie sie damit umgehen. Durch eine anonymisierte Erhebung. Dadurch konnte ein Raum geschaffen werden, indem die breitere Öffentlichkeit und auch die Landesregierung erfahren, wo „der Schuh drückt“.

Sie arbeiten zudem hier an der FAU in unterschiedlichen, jeweils vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekten. Auch hierbei beschäftigen Sie sich mit ähnlichen Fragestellungen. Können Sie uns ebenfalls Ihre Forschungsbereiche hierzu kurz vorstellen?

Prof. Dr. Mathias Rohe: Dieses vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Projekt bearbeite ich mit meinem langjährigen Mitarbeiter Dr. Mahmoud Jaraba. Es knüpft an die „Paralleljustiz“-Forschungen an, die wir in den Bundesländern Berlin und Nordrhein-Westfalen unternommen haben. Wir untersuchen nun im Ruhrgebiet Milieus, in denen „Paralleljustiz“ praktiziert und denen „Clankriminalität“ zugeschrieben wird. In diesen großfamiliären Kontexten sind wir bemüht, Brückenbauerinnen und -bauer zu entdecken. Darunter verstehen wir Personen, welche mit den deutschen Rechts- und Gesellschaftsverhältnissen vertraut und zugleich in der Lage sind, in die Familien- und Verwandtschaftsverhältnisse hinein und auch aus diesen heraus zu kommunizieren.

Dr. Hatem Elliesie: In dem von mir geleiteten Forschungsprojekt untersuche ich mit drei Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Lebenswelten von Angehörigen unterschiedlicher Großfamilien. Diese Großfamilien stammen weitestgehend aus einem ursprünglich arabischsprachigen Umfeld. Bei der Erforschung dieser Lebenswelten nehmen wir insbesondere ausgewählte Szenenfelder wie die der Kampfsport-, Türsteher, Shisha-Bar- und Gangsta-Rapszene in den Blick. Wir wollen Einblicke in Lebensstile und typische Handlungspraktiken der Menschen gewinnen, die sich in diesen Szenenfeldern bewegen. Von Interesse ist dabei auch ob und inwieweit wechselseitige Bezüge der als subkulturell wahrgenommenen Szenen zur deutschen Gesamtgesellschaft bestehen.

Welche besonderen Methoden verwenden Sie für Ihre Forschungsarbeiten?

Dr. Hatem Elliesie: Wir wollen Lebenswelten aus Sicht derer beschreiben, die sich in den Szenenfeldern bewegen. Dazu bedienen wir uns den klassischen Methoden der qualitativen empirischen Sozialwissenschaften. Hierzu zählen unterschiedlichste Varianten von Befragungen (Interviews). Dabei unterscheidet am grundsätzlich zwischen narrativen Interviews und Leitfaden gestützten Interviews. Ferner haben wir Gruppendiskussionen angewendet, die wir – wie Herr Rohe auch – als Runde Tische (engl. „Roundtabel Discussions“) bezeichnet haben.

Prof. Dr. Mathias Rohe: Unserer langjährigen Erfahrungen mit Interviews in diesem spezifischen Milieu hat gezeigt, dass der Verzicht auf Tonbandaufnahmen sehr viele offene Gespräche ermöglichte, die wir im Falle von Aufzeichnungen so nicht erreicht hätten. Hierzu ist es allerdings wichtig, dass die umfangreichen handschriftlichen Notizen sofort nach den Interviews in aussagekräftige Protokolle überführt werden. Unsere Gesprächspartner:innen waren auf dieser Basis und der Zusicherung Anonymität zu wahren bereit, äußerst offen zu sprechen.

In welchen Bereichen können Sie zusammenarbeiten und sich austauschen?

Prof. Dr. Mathias Rohe: Bei der zwischenzeitlich weitgehend abgeschlossenen Feldforschung haben wir beispielsweise eng bei der Akquise von Interviewpartner:innen kooperiert. Auch finden regelmäßig Besprechungen statt, in denen die Vorgehensweise und Herausforderungen der Milieuforschung besprochen und aufeinander abgestimmt und Erkenntnisse ausgetauscht werden. Im April haben haben wir zudem eine gemeinsame Tagung an der FAU ausgetragen.

Zum Schluss noch ein kleiner Ausblick: Wie geht es in den kommenden Wochen und Monaten weiter bei Ihnen?

Dr. Hatem Elliesie: Wir werden die Feldforschungen weitgehend abschließen und haben auch schon begonnen, Einblicke in unsere Forschungsphasen auf Instagram unter dem Hashtag #SocialScienceOnSlides zu gewähren.

Prof. Dr. Mathias Rohe: Zum Abschluss der Feldforschung und der Auswertung der erhobenen Daten ist ein Transfertagung mit relevanten Akteur:innen aus den „Großfamilien“, den Behörden sowie Expertinnen geplant. Ziel der Transfertagung wird sein, die Forschungsergebnisse zu präsentieren und deren praktische Implikationen zu diskutieren. Dabei ist ein sensibles Vorgehen für einen nachhaltigen Vertrauensaufbau unabdingbar.